Szenario von Rache und Vergeltung

In Israel werden auf beiden Seiten täglich Menschen Opfer von Attentaten und militärischen Vergeltungsmaßnahmen. Die Politik von Israels Premier Scharon scheint geplant zu sein. In den Medien werden zunehmend kritische Stimmen laut

aus Jerusalem ANNE PONGER

Genau einen Monat hatte es einen Waffenstillstand gegeben. Nach der Rede von Palästinenserführer Jassir Arafat am 16. Dezember mit dem Aufruf zum Waffenstillstand, hatten die Islamistenorganisationen Hamas und Dschihad von Selbstmordanschlägen in Israel abgesehen, waren die Feuerüberfälle auf Siedler und Soldaten fast ganz zurückgegangen. Seit Mitte Dezember hatte die israelische und die palästinensische Bevölkerung Druck auf ihre Führungen ausgeübt, mit gemeinsamen Friedensinitiativen. Die Botschaft: Genug des Blutvergießens, wir müssen und wollen miteinander leben und fordern politische Verhandlungen über einen friedlichen Prozess zur Beendung der Besatzung, eine vertraglich ausgehandelte politische Abtrennung mit dem Ziel zweier Staaten im Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordan.

Arafat hatte begonnen, die palästinensischen Extremisten unter Kontrolle zu bringen. Der Erfolg war überzeugend und setzte Scharon sowie seine ideologisch zu keinen Kompromissen bereite Rechts-Regierung politisch unter Druck. Um die hoffnungsvolle Stimmung in Israel zu dämpfen und die USA und die Welt in Zweifel zu stürzen, wurden Ausreden erdacht: ein dubioses Waffenschiff „Karine A“, unterirdische Tunnel im Süden des Gaza-Streifens, die die Vertreibung von hunderten Palästinensern durch Armeebulldozer im Süden des Gaza-Streifens rechtfertigen sollten und eine erneute gezielte Liquidierung des Palästinensers Al-Carmi.

Für alle jene Provokationen hatten extremistische Organisationen Vergeltung geschworen. Israels Regierung und Armee hatte dagegen seit Anfang der Woche erneut palästinensische Städte belagert und abgeriegelt.

Es war eine Rückkehr zum bekannten Szenario: Trotz „hermetischer Abriegelung“, die erfahrungsgemäß unmöglich ist, drang ein bis zum Selbstmord motivierter bewaffneter Terrorist nach Israel ein. Da gilt es zu demonstrieren, dass selbst die bis an die Zähne bewaffneten Sicherheitskräfte gegen Selbstmordrache nicht gefeit sind. Davor hatten sogar hohe Offiziere vor einem Monat gewarnt. Es kann nicht sein, dass Scharon und seine Rechtsaußen-Koalitionspartner das nicht verstanden haben. Ihre Provokationen gegen alle friedlichen Ansätze scheinen geplant. Man kann nicht umhin, sich an Scharons Pläne von 1982 zu erinnern, als er als Menachem Begins Verteidigungsminister alles daran setzte, den Nahen Osten seinen „großen Plänen“ zu unterwerfen und mit dem Libanonkrieg ein Blutvergießen anzuzetteln, unter dem Israel bis zum Libanonrückzug im Mai 2000 leiden musste.

Gestern wurden die israelischen Todesopfer des Anschlags in Hadera zu Grabe getragen, während vier Angeschossene in Lebensgefahr schweben. Die Palästinenser mussten nach einem Bombeneinsatz von F-16-Kampfflugzeugen im Westjordanland einen Polizisten beerdigen und sorgen sich um mindestens vierzig verletzte Menschen.

Erstmals meldeten sich kritische Stimmen in den Medien. In Radiointerviews erinnerten Verwandte der russischen Opfer des letzten Anschlags an die provozierenden Maßnahmen der israelischen Armee, die die zu erwartende Rache hervorriefen. In populären Musikprogrammen äußerten bekannte Medienstars wie Joram Gaon Zweifel an der agressiven Besatzungs- und Zerstörungspolitik. Einhalt muss der Scharon-Regierung sowohl von innen als auch von außen geboten werden. Während die meisten Israelis leider noch durch Angst, Schrecken und Propaganda in Zaum gehalten werden, sollte die internationale Gemeinschaft nicht mehr schweigen.