Auf der Flucht vor dem Vulkan

Nach dem Ausbruch des Nyiragongo sind große Teile der kongolesischen Stadt Goma unter Lava begraben. Zahl der Opfer noch nicht abzuschätzen

von DOMINIC JOHNSON

Eigentlich ist die Lage der kongolesischen Stadt Goma paradiesisch: Auf der einen Seite die stillen blauen Wasser des Kivu-Sees, eines der schönsten Seen Afrikas; auf der anderen die dunklen Bergmassive jener Kette von Vulkanen, die an der ruandisch-kongolesischen Grenze bis zu 4.500 Meter hochsteigen und eine reiche Flora und Fauna beherbergen. Jetzt ist diese Lage Goma zum Verhängnis geworden. Schätzungsweise 200 Millionen Kubikmeter Lava – genug, um eine Fläche von zehn mal zehn Kilometer mit einer zwei Meter dicken Schicht zu bedecken – haben sich aus dem Krater des Vulkans Nyiragongo in die Tiefe ergossen und Goma zu großen Teilen zerstört.

Fast alle der 400.000 Einwohner der Stadt sind jetzt auf der Flucht. Die meisten kampieren in Ruanda jenseits der nahen Grenze, andere sind tiefer in den Kongo hineingezogen. Wie viele zurückblieben und lebendig begraben oder verbrannt wurden, ist nicht bekannt. In einer von Krieg ohnehin schwer gebeutelten Region bahnt sich eine neue gigantische humanitäre Katastrophe an.

„Fast das gesamte Stadtzentrum ist verbrannt“, berichtet Aloys Tegera, Direktor des in Goma ansässigen kongolesischen Rechercheinstituts „Pole Institute“, per Mobiltelefon. „Ein großer Teil von Goma existiert nicht mehr. Es ist nur noch ein Lavafluss.“ Tegera rettete sich am späten Donnerstagnachmittag rechtzeitig über die Grenze nach Ruanda. „Ich sah den Rauch und bin weggefahren. 30 Minuten später begann, die Lava zu brennen.“

Im Schritttempo, auf einer Breite von 200 bis 300 Meter, durchzog der Lavastrom am Donnerstagabend das Zentrum von Goma bis zum Kivusee. Bis gestern Mittag war er noch nicht versiegt. „Als ich mit dem Schiff übersetzte, ergoss sich die Lava auf einer Breite von 200 bis 300 Meter in den See“, berichtet Karl Ginter, örtlicher Logistikchef der Deutschen Welthungerhilfe, der ebenfalls am Donnerstagabend nach Ruanda floh und gestern nur noch per Boot zu seinen Büros in Goma kam, die hinter der Lavafront liegen. „Das Wasser kochte. Es war eine Riesenfontäne mit Rauch und Dampf.“

Die Eruption des Nyiragongo hatte am Donnerstagvormittag begonnen. Vulkanologen ermittelten drei Lavaströme, davon einer floss direkt nach Goma. Die Führung der kongolesischen Rebellenbewegung RCD (Kongolesische Sammlung für Demokratie), die in Goma ihre Hauptstadt hat, nahm Krisenberatungen auf. Einige Bewohner der Stadt machten sich auf den Weg an die Grenze, die vom Stadtzentrum aus zu Fuß zu erreichen ist. Am Nachmittag öffnete sich am Hang des Vulkans ein weiterer Spalt, ein neuer Ausbruch begann. Über Radio wurde die Bevölkerung von Goma aufgefordert, sich nach Ruanda in Sicherheit zu bringen.

Hunderttausende Kongolesen verbrachten die Nacht zu gestern im Freien im ruandischen Grenzort Gisenyi und dessen Umgebung, wo die Straßen steil in die Berge ansteigen und den Blick auf die brennenden Vulkane freigeben. Im Laufe des Tages setzte nach Berichten von Augenzeugen ein reger und unkontrollierter Grenzverkehr in beide Richtungen ein. Obwohl die Behörden von einer Rückkehr nach Goma abrieten, weil das Risiko von Gasaustritten aus der Lavamasse sehr hoch sei, wollten viele Leute nachsehen, ob ihre Häuser noch stehen.

„Die Lava fließt immer noch. Goma ist geteilt, und ganze Viertel sind verschwunden“, berichtet Tegera. Das Ausmaß der Verwüstung ist noch nicht abzusehen. Weite Teile der Stadt liegen unter einer anderthalb bis zwei Meter hohen Lavaschicht, die gestern Nachmittag trotz kurzer Regenfälle zum Teil noch brannte. Die lebhaften Geschäftsstraßen des Zentrums sind zerstört, die katholische Kathedrale von Goma ebenso wie Teile des Flughafens. Die Lava wälzte sich dort nur 300 Meter am Hauptquartier der UN-Blauhelm-Mission Monuc vorbei, die dort ihr Logistikzentrum für den Ostkongo hat. An den großen Treibstoffdepots der UNO floss der Lavastrom knapp vorbei – so blieb Goma wenigstens von einer gigantischen Explosionskatastrophe verschont.

Als sicher gilt, dass viele Armenviertel in der Nähe des Flughafens restlos von der Lavamasse verschluckt worden sind, möglicherweise mit einigen ihrer Bewohner. Goma ist in den letzten zwei Jahren als Folge des wirtschaftlichen Aufschwungs, den der Export des von der Mobilfunk- und Computertechnologie stark nachgefragten seltenen Minerals Coltan brachte, rapide gewachsen. Seine Bevölkerung verdoppelte sich zwischen 1996 und 2001 auf 400.000 Menschen. Gleich neben dem Flughafen im ländlichen Umland, in Richtung der Vulkane, entstanden kilometerweit Siedlungen aus Wellblechhütten.

Nun steht die ganze Stadt vor dem Nichts. Strom- und Wasserversorgung sind zusammengebrochen. Hilfswerke befürchten Choleraepidemien. Aber rasche Hilfe wird schwer sein. Denn die Lava hat auch zahlreiche Büros internationaler Hilfsorganisationen unter sich begraben. Nach ersten Schätzungen gehören dazu die Büros von Oxfam, Save the Children, Internationalem Roten Kreuz sowie ECHO, dem humanitären Arm der EU, größter einzelner Geber in der Region. Und die Katastrophe könnte noch größer werden. Weitere Explosionen im Innern des Vulkans sowie Erdstöße, die bis nach Kigali zu spüren waren, erschütterten gestern die Region und versetzten die Flüchtlinge in Panik.