Denk ich an Sozis ...
: Stichwort H. Heine

■ Henning Scherf und Matthias Greffrath stritten über Emotionen in der Politik

Henning Scherf wusste gar nicht, wie ihm geschah. Ausgerechnet er sollte die kühle Rationalität der Politik verteidigen? „Ich stehe im Verdacht, dass ich über Sachprobleme hinwegrede, sie zukleistere“, sagte der Bürgermeister schmunzelnd, „dass ich mit Emotionen Politik mache.“ Der Publizist Mathias Greffrath hatte den Mangel an Charisma in der Sozialdemokratie beklagt. „Sozialdemokraten sind zwar die geborenen Verwalter eines Gemeinwesens“, schmeichelte er. „Aber sie sprechen die Gefühle der Menschen nicht an.“

Sozis in Bedrängnis

Das habe sie gegen Hitler unterliegen lassen und bringe sie heute in der Auseinandersetzung mit Rechtspopulisten in Bedrängnis. Eigentlich sollte es an diesem Abend um Heinrich Heine gehen – wie in der ganzen von Rathaus-Querdenker Helmut Hafner und Radio-Bremen-Regisseur Karl Fruchtmann organisierten Vortragsreihe.

Aber heute fungierte der Dichter bestenfalls als Stichwortgeber für praktisch-politische Fragen: Ausgangspunkt des Disputs zwischen Bürgermeister und Autor, der fast einmal Chefredakteur der taz geworden wäre, war die Formulierung vom „Missvergnügen am Status Quo“ – ein Zitat, das nur möglicherweise von Heine stammt, seine Geisteshaltung aber vermutlich adäquat beschreibt. Auch Greffrath treibt dieses Miss-vergnügen um, während er den Sozialdemokraten zuviel Einverständnis mit dem Status Quo attestierte.

Seit Willy Brandt sei der charismatische Ton in der Politik verloren gegangen, den auch Scherf nicht für wiederbelebbar hält. Es nütze nichts, „wenn Schröder dieselbe Show macht wie Willy“, rutschte es ihm raus: „Er muss doch 'ne andere Politik machen.“ Schließlich seien „diese Helden, die Argentinien kaputt spekuliert haben“, allesamt Charismatiker. Scherf: „Wir brauchen Aufklärer statt charismatischer Herrschaft.Greffrath entgegnete bestimmt, mit „demokratischem Charisma“ meine er das Setzen von Fernzielen, vulgo: Visionen.

„Öffentlicher Zynismus“

Den Sozialdemokraten sei die Leidenschaft abhanden gekommen, weil sie keine Gegner mehr identifizieren könnten. Viel zu sehr hätten die Genossen verinnerlicht, dass der Sozialstaat nicht mehr aufrecht zu erhalten sei.

„Öffentlichen Zynismus“ nennt Greffrath es, wenn der SPD-Stratege Peter Glotz sich mit einer Unterschicht von einem Drittel der Gesamtbevölkerung abfinde. Schließlich habe auch Heine nicht nur Brot, sondern auch „Rosen, Myrrhe und Zuckererbsen“ gefordert, also eine Grundversorgung als Voraussetzung für Kultur – die perfekte Formulierung des sozialdemokratischen Programms im Unterschied zu den „rohen Revolutionären“. Scherf sagte fast beschwörend: „Ich will mich für den Sozialstaat prügeln – so lange ich sprechen kann.“

Wenn Scherf tatsächlich in den Europäischen Verfassungskonvent berufen werde, solle er sich dort für das Recht auf Arbeit einsetzen, betonte Greffrath. Aber da ist die tückische Macht des Faktischen: „Wir haben das Recht auf Arbeit in der Bremer Landesverfassung“, sagte Scherf, „und was nützt das einem Bremer Arbeitslosen?“ Jan Kahlcke

Den vorletzten Vortrag in der Heine-Reihe hält am Mittwoch um 19 Uhr der Hamburger Literaturwissenschaftler Klaus Briegleb: „Jeden Nachmittag studiert er die Kabbala“ – Versuch über Heines säkulares Judentum (Gästehaus der Universität, Teerhof 58).