Thora, Talmud und andere Glaubensrollen

Verwirrspiel im Schlafzimmer: Marcus Fisher, der orthodoxe Jude, ist Oreet Ashery, die israelische Künstlerin, in der Performance „Say Cheese“. Heute beginnt in der Galerie Stil + Bruch die Ausstellung „alter ego“ mit Fotos und Videos ihrer Aktionen, die Geschlechter und Religion vermischen

„Zuerst war das ein Schock: Ich öffne die Tür, da sitzt ein Mann auf dem Bett, gekleidet wie ein orthodoxer Jude, in Verführerpose. Ich dachte, ich bin im falschen Zimmer“, sagt ein Argentinier. Der Mann neben ihm hat etwas anderes erlebt: „Für mich war das eine Frau. Ich kann kein Englisch, also habe ich versucht, mich mit ihr über Körperkontakt zu verständigen. Wir haben auf dem Bett einen Tanz improvisiert. Ich fand das sehr erotisch.“ Ein dritter Besucher weiß nicht, welchen Artikel er benutzen soll für die Person, der er begegnet ist: „Sie … er … sie, also, ich habe mir dann während der Aktion vorgestellt, dass es ein Er ist.“

Die drei sitzen auf Korbstühlen im „Wartebereich“, einem leer geräumten Zimmer einer Altbauwohnung in Kreuzberg. Die Performance „Say Cheese“ ist vorbei. Nebenan, im Schlafzimmer, hat Marcus Fisher, das Alter Ego der israelischen Künstlerin Oreet Ashery, über eine Stunde lang die angemeldeten Gäste empfangen, Männer und Frauen, alle einzeln, nicht länger als fünf Minuten. In schwarzem Anzug und weißem Hemd, unter dem die Fransen des Gebetsschals hervorlugen, mit schwarzem Hut auf dem kahl rasierten Kopf, dicker Brille und langen Schläfenlocken bot Marcus Fisher die perfekte Imitation eines strenggläubigen Juden. Dessen helle, sanfte Stimme dazu aufforderte, mit ihm zusammen auf dem riesigen Bett vor der Kamera zu posieren.

Für Einfallslose gab es Anweisungen: „Sie“ dahindrapiert, „er“ auf der Bettkante sitzend, beide nebeneinander liegend, erschöpft vom Sex, Paarklischees aus tausend Filmszenen. Doch „kaum jemand hat sich nach den Vorlagen gerichtet“, sagt Oreet Ashery hinterher, wieder zurückverwandelt in ihre Erstidentität. „Die Leute kamen mit ihren eigenen Ideen, waren sehr aktiv, viel offener als in London.“

Die 35-jährige Israelin lebt seit 15 Jahren in England, hat dort auch bildende Kunst studiert. Sie selbst bezeichnet sich als säkular, die Familie der Mutter lebt streng religiös. Ein Freund in Israel ist zur Orthodoxie zurückgekehrt, momentan keine seltene Erscheinung bei jungen Israelis. Das bedeutet jedoch das Ende der Beziehungen zu Nichtreligiösen, auch eine Art von Tod. Das Erlebnis veranlasste Oreet Ashery, in die Rolle zu schlüpfen, die der Freund gewählt hat – seit 1999 existiert Marcus Fisher. Ashery spielt in ihrer Kunst mit Attributen jüdischer Tradition, untersucht das Verhältnis von Thora und Talmud zur Sexualität, karikiert das orthodoxe Patriarchat. Zugleich reiht sie sich in die Gruppe der KünstlerInnen ein, die sich mit Cross-Gender-Themen auseinander setzen.

Die bei „Say Cheese“ entstandenen Fotos werden den Teilnehmern zugeschickt und als neueste Arbeiten in der Galerie Stil + Bruch ausgestellt, zusammen mit früheren Videos und Fotos. In Tel Aviv, London und Berlin war Fisher an Orten zu sehen, die in hartem Kontrast zu seinem Äußeren stehen. „Mich interessiert, wie Menschen auf den ‚Fremden‘, den ‚Anderen‘ reagieren, der offensichtlich nicht dazugehört“, sagt Ashery.

In Tel Aviv beispielsweise wandert Marcus Fisher in orthodoxer Montur am Strand entlang, umgeben von Badenixen und planschenden Kindern. Schon bald wird er seinerseits von einem orthodoxen Juden verfolgt, dem Fisher wohl höchst verdächtig vorkommt. Solche „Interventionen“ können schnell provozieren, die Medien reagieren zurückhaltend aus Angst, die jüdische Gemeinde zu verletzen.

Bei ihren Performances zitiert Ashery Versuchsanordnungen aus Reality-Shows. „Say Cheese“ fragt nach dem Sichtbaren und dem Versteckten in den Bildern, fragt danach, was aus einem intimen Moment wird, wenn er öffentlich wird. Gleichzeitig gibt Ashery ihrem Gegenüber die Freiheit, die Begegnung zu gestalten, den Auslöser zu drücken.

So sind an diesem Abend in Kreuzberg zwölf Geschichten entstanden. Von Menschen und ihrer ganz persönlichen Art, einem Fremden zu begegnen, der eine Frau ist, aber einen Mann spielt. Der orthodox aussieht, sich aber säkular verhält. Der nicht einzuordnen ist und in diesem kleinen verwirrenden Moment zwischen Realität und Fiktion ein Nachdenken über die eigene Rolle, die eigene Wahrnehmung, die eigene Sexualität anstößt. ANNA STERN

„alter ego“ bis 3. 2., Galerie Stil+ Bruch, Admiralstr. 17, Kreuzberg; Eröffnung heute 19 Uhr; parallel erscheint die CD-ROM „alter ego“, 10,23 €