Verhängnisvolle Pillen

Die DDR-Dopingopfer sind immer noch nicht entschädigt worden. Der Bund hat zwar Hilfe zugesagt, aber zahlen müssten auch das deutsche NOK und die Pharmaindustrie

5 Millionen Mark hat das deutsche NOK vom Ost-NOK geerbt: Sie sollten in die Entschädigung fließen

Wenn sich morgen der Sportausschuss des Bundestags trifft, soll auch über den geplanten Entschädigungsfonds für Dopingopfer aus der ehemaligen DDR beraten werden. Allerdings wird wieder einmal deutlich, wie locker die Politik dieses Thema nimmt: Von sechs Punkten der Tagesordnung steht die Diskussion über den Dopingfonds an fünfter Stelle. Der Bund hat zwar versprochen, die manipulierten Sportler mit 2 Millionen Euro zu unterstützen. Doch noch ist unklar, wie die Dopingopfer ihre Ansprüche geltend machen können und das Geld verteilt wird. Der Etatposten ist bisher mit einer Sperre versehen.

Vor allem aber: 2 Millionen Euro sind zu wenig, um die Schäden der Opfer angemessen auszugleichen. Untersuchungen gehen davon aus, dass von rund 10.000 gedopten Sportler in der ehemaligen DDR 15 Prozent leichtere, 5 Prozent schwere Gesundheitsschäden erlitten haben. Besonders Frauen, die noch vor der Pubertät von Trainern und Betreuern anabole Steroide in Form von Oral-Turinabol verabreicht bekamen, leiden teilweise unter irreversiblen Schäden. Neben gynäkologischen Problemen wie Störungen der Fruchtbarkeit und des Klitoriswachstums sind zahlreiche Fälle von Herz- und Krebserkrankungen sowie Leberschäden bekannt. Aggressivität, Depressionen und Essstörungen sind weitere Symptome. Krankheitsbilder, die davon herrühren, dass die minderjährigen Athleten mit männlichen Hormonen zur Leistungssteigerung voll gepumpt wurden – ohne ihr Wissen. Dies ist der entscheidende Gegensatz zu heutigen Dopingsündern, die Nebenwirkungen bewusst in Kauf nehmen, um sportliche Spitzenleistungen zu erzielen.

Und um noch mit einer zweiten langlebigen Legende aufzuräumen: Eine Entschädigung hätte nicht den Effekt, dass die Betroffenen künftig in Saus und Braus leben könnten – sondern es würde sie darin unterstützen, die oft hohen Arzt- und Behandlungskosten aufzubringen, die von den Krankenkassen meist nicht komplett übernommen werden.

Die Opfer haben ein Recht auf Entschädigung – doch wäre es falsch, die Kosten ausschließlich dem Bund aufzubürden. Gefragt sind auch die Sportorganisationen, die die Nachfolge der DDR-Vereinigungen angetreten haben, sowie die beteiligten Pharmakonzerne.

Und erstmals scheint sich hier Bewegung abzuzeichnen. Hat doch vor kurzem der Präsident des Deutschen Sportbundes (DSB), Manfred von Richthofen, eine überraschende Abbitte geleistet und versprochen, sich an dem Fonds zu beteiligen. Er selbst kritisierte deutlich seinen eigenen Umgang mit den Opfern des systematischen Dopings in der ehemaligen DDR: „Ich bekenne mich zu Versäumnissen seitens des Sports, die zur Folge hatten, dass das Thema jahrelang verschleppt wurde.“

Nicht so einsichtig zeigt sich das deutsche Nationale Olympische Komitee, das die Dopingopfer nicht anerkennt. Das NOK weigerte sich sogar, bei einer Anhörung des Sportausschusses den Fragebogen auszufüllen, der an Experten und Betroffene verteilt wurde. NOK-Präsident Walther Tröger wiederum beschränkte sich noch vor kurzem darauf, von „Sportlern, die sich Opfer nennen“, zu sprechen. Zudem wird in dem monatlichen NOK-Report das Thema Doping in der ehemaligen DDR immer wieder bagatellisiert. Argument: Die Zahl der bekennenden Sportler sei relativ gering.

Dies trifft zu, doch kann dies kein Anlass sein, die staatlich geförderten Dopingprogramme in der DDR herunterzuspielen. Denn es ist kein Wunder, dass vielen geschädigten Sportlern einfach der Mut fehlt, sich zu outen – können sie doch beobachten, wie abschätzig mit den engagierten Dopingopfern umgegangen wird. Drohanrufe von ehemaligen Drahtziehern gehören für bekennende Sportler wie die Autorin Ines Geipel zum Alltag. Außerdem: Wem bereitet es schon Freude, eigene körperliche Beschwerden zu schildern? Womöglich noch öffentlich, wie beim Berliner Dopingprozess vor knapp zwei Jahren.

Die beharrliche Ignoranz des NOK ist besonders ärgerlich, weil das Komitee bei der Wiedervereinigung das Vermögen des Ost-NOK erbte: rund 5 Millionen Mark. Eher noch als der etwas ärmliche DSB könnte das NOK also den Entschädigungsfonds anreichern.

Nur wenige Dopingopfer bekennen sich – sie fürchten zu Recht die öffentliche Ablehnung

Ebenso könnte auch der finanzstarke Pharmakonzern Schering in den Fonds einzahlen; die Firma sollte sich an das erinnern, was in den Stasi-Akten unmissverständlich nachzulesen ist – nämlich, dass die volkseigene Arzneimittelfirma Jenapharm, die nach der Wende von Schering übernommen wurde, an der Herstellung und Verabreichung der „blauen Pillen“ maßgeblich beteiligt war. Doch sowohl Michael Oettel, damaliger und heutiger Forschungsleiter von Jenapharm, als auch die Betriebsleitung weigern sich, ihre Vergangenheit anzuerkennen, und lehnen jede Stellungnahme ab.

Wie nachlässig bisher mit dem Dopingthema umgegangen wurde, zeigt auch die Tatsache, dass zahlreiche Beteiligte ungeschoren davongekommen sind. Und sich sogar heute in hohen Positionen wiederfinden. Nicht nur in der Pharmaindustrie, auch im Sport: Hier sind Trainer und Ärzte, denen Dopingmissbrauch an Minderjährigen nachzuweisen ist, auf Bundesebene nach wie vor aktiv. Jüngstes Beispiel ist die Wiederwahl des Vizepräsidenten des Deutschen Ringerbundes und ehemaligen Leiters der Forschungsgruppe Ringen in der DDR, Harold Tünnemann. Er wurde durch die Entdeckung eines Stasi-Papiers vom Sporthistoriker Giselher Spitzer der Beteiligung an der Dopingvergabe bezichtigt. Noch ist Tünnemann zwar in Amt und Würden, doch immerhin wurde eine lebhafte Diskussion darüber entfacht, ob es dem Sport tatsächlich gut tut, wenn einstige Dopingaktivisten repräsentative Posten einnehmen.

Die Zeit jedenfalls ist günstig, die Märchenstunde mit Überlänge zu beenden und die notwendige Aufarbeitung ergebnisorientiert zu beschleunigen. Die Opfer können nicht mehr länger warten. Und dabei geht es nicht nur ums Geld. Deutliche Stellungnahmen aller Beteiligten würden einen offenen Umgang mit einer Sportvergangenheit ermöglichen, von der sowieso jeder weiß. Das gilt nicht nur für diejenigen, die Dopingmittel verabreicht haben. Sondern auch für die, die mit Hilfe von Doping Erfolge erzielten. Bekannte Sportler wie Heike Drechsler, Kristin Otto oder Jürgen Schult leugnen nach wie vor, gedopt worden zu sein, oder wollen sich nicht dazu äußern. Irgendwie verständlich, erschienen doch ihre errungenen Medaillen in einem etwas anderen Licht. Doch den Verlierern des Systems fallen sie damit in den Rücken. Wenn auch die erfolgreichen Sportler ihr Schweigen brechen und sich nach dem Vorbild Richthofens zu ihrer Vergangenheit bekennen würden, dann wäre dies ein weiteres wichtiges Zeichen. Und dann hätte vielleicht auch die aktuelle Kampagne des DSB keinen seltsamen Beigeschmack mehr, wenn es heißt: „Sport tut Deutschland gut.“ JUTTA HEESS