„Er der Vater, wir die Buben“

■ Kammerphilharmonie spielte den Carl Philipp Emmanuel Bach, dessen verschollene Manuskripte gerade gefunden wurden

„Die Neuheit“, so rief Klopstock seinem 1788 verstorbenen Freund Carl Philipp Emmanuel Bach als Epitaph nach, habe er „mit der Schönheit vereint“, groß sei er „in der vom Wort geleiteten, noch größer in der sprachlosen Musik“ gewesen. Und wenn Joseph Haydn und Wolfgang Amadeus Mozart vom „Vater Bach“ sprachen, dann meinten sie nicht etwa Johann Sebastian, sondern den Sohn Carl Philipp Emmanuel, der wie keiner die Zeit auf- und angestoßen hat, die wir die Klassik nennen. Seine Einfallskraft, sein Witz und seine Genialität – Originalitätspostulate des Sturm und Drang – wurden lange übersehen, lediglich als Vorläufer der Wiener Klassik bezeichnet. Zwar hat es in der Konzertgeschichte der letzten zwanzig Jahre durch die Arbeit der historischen Aufführungspraxis Ahnungen davon gegeben, welcher Platz in der Musikgeschichte „dem Sohn“ zusteht, doch harrt noch immer ein gründlich verkanntes Werk seiner Entdeckung.

Auf diesem Hintergrund kommt dem ersten Abonnementskonzert der Deutschen Kammerphilharmonie geradezu außerordentliche Bedeutung zu. Sie hatte den Mut, gleich drei Werke des großen Unbekannten vorzustellen und mit Werken von Wolfgang Amadeus Mozart („Er ist der Vater, wir sind die Buben“) und Joseph Haydn („Wer mich gründlich kennt, der muss finden, dass ich Emanuel Bach sehr vieles verdanke“) an dessen großen Einfluss auf die beiden Wiener Meister zu erinnern.

Niemand hätte das besser dirigieren können als der Niederländer Ton Koopman, der mit Genauigkeit und Humor die oft schockartigen Affektwechsel in zwei Sinfonien und einem Konzert für zwei Cembali (Tini Mathot und Ton Koopman) und Orchester liebevoll ausgestaltete. Es war dabei auch zu merken, dass einer angemessenen Carl Philipp Emmanuel Bach-Rezeption auch die schier unglaubliche Schwierigkeit der Interpretation entgegensteht: die schroffen dynamischen Kontraste, die beredten Generalpausen, die fragmentarisch wirkenden und damit experimentellen melodischen Abspaltungen, die Modulationen und Tonartrückungen, die weit über das damals Zeitübliche hinausgingen, – all das lässt sich durch lediglich sauberes Spiel nicht erschliessen. Koopman übermittelte mit dem gut und besonders homogen folgenden Orchester nahezu alles von der quirligen Originalität des Komponisten, den sein Arbeitgeber Friedrich der Große so gar nicht schätzte.

Mozarts „Serenata notturna“ KV 239, ein schelmisches und witzges Stückchen, in dem alle nacheinander ein kleines improvisiertes Solo spielen, realisierten die MusikerInnen wunderbar. Und die Sinfonie Nr. 85 von Joseph Haydn zeigte deutlich, wie viele Anregungen von Carl Philipp Emmanuel Bach sich zunächst einmal wieder in einem erklärten Formwillen niederschlugen.

Dass auch dieses Konzert mit Publikumsovationen endete, spricht nicht nur für die Wiedergaben, sondern auch für den Komponisten, von dem gerade durch Kriegsgeschehen 50 (!) verschollene Cembalo-Konzerte und 20 Passionen und in Kiew wieder aufgegefunden, die seit dem September 2001 in Berlin sind. Darunter befinden sich insbesondere die großen Passionen, die Carl Philipp genauso schrieb wie sein Vater. Diese Menge ergibt mit Sicherheit ein neu zu schreibendes Kapitel in der Geschichte der Musik.

Ute Schalz-Laurenze