Das Niveau sinkt, das Adrenalin nicht

Ruslan Ponomarjow (18) führt bei der Schach-WM auch deshalb, weil sein Gegner kaum Zeit zum Überlegen hat

BERLIN taz ■ Ruslan Ponomarjow führt im Finale der Schach-WM gegen seinen ukrainischen Landsmann Wassili Iwantschuk mit 3,5:1,5. Somit fehlt dem 18-Jährigen nur noch ein Punkt aus drei Partien, um jüngster Weltmeister aller Zeiten zu werden, ein Titel, den bisher Garri Kasparow trug. Da darf es nicht verwundern, dass das neue Lieblingsskind von Kirsan Iljumschinow, in Personalunion Präsident des Weltverbandes Fide und kalmückisches Staatsoberhaupt, Kasparow doppelten Verdruss bereitet: Der 1985 im Alter von 22 Jahren auf den Schachthron gelangte Russe geißelt die Fide ohnehin unentwegt, diesmal ereifert sich der Weltranglistenerste über die „katastrophale Bedenkzeitverkürzung“, die der „Diktator“ den 128 WM-Teilnehmern in Moskau aufgezwungen hat.

Dabei reduzierte Iljumschinow die Bedenkzeit (von zwei Stunden für die ersten 40 Züge und eine weitere Stunde für die nächsten 20 Züge auf 90 Minuten plus zusätzliche 30 Sekunden für jeden weiteren Zug) eigentlich in bester Absicht. Schach, so sein Ansinnen, müsse „sportlicher“ werden, um bei Olympia über den Status eines Demonstrationswettbewerbs hinauszukommen; außerdem versprächen kürzere Partien mehr Fernsehübertragungen. Letzteres ist allerdings Humbug. Auch fünf Stunden lange Denkduelle animieren keinen Sender zu Live-Übertragungen.

Können sich Hobbyspieler kaum vorstellen, worüber sie 30 Sekunden lang pro Zug brüten sollen, sieht Kasparow das „klassische Schach zerstört“. Die Qualität der Begegnungen sinke dramatisch. Dass es sich nicht um einen reinen Unkenruf des 38-Jährigen handelt, der sich 1993 mit der Fide überworfen und den WM-Titel bis zum Verlust im Herbst 2000 an Wladimir Kramnik selbst vermarktet hatte, belegt das Finale des Weltverbandes. „Das Niveau war niedrig“, räumt Ponomarjow ein, „womöglich wegen des erhöhten Stresses.“ Kontrahent Iwantschuk klagt: „Ich komme einfach nicht in Gang.“ Nachdem der 32-Jährige zum Auftakt ein Desaster in nur 23 Zügen erlebt hatte, übernahm die bisherige Nummer eins der Ukraine zwar die Regie, doch der zähe Verteidiger Ponomarjow rettete zwei Verluststellungen auf wundersame Weise. Im fünften Vergleich ließ Iwantschuk einen simplen Gewinn aus; im so genannten Endspiel, in dem wenige verbliebene Steine die Lage auf dem Brett kalkulierbarer machen, fehlte ihm schlichtweg die Zeit zum exakten Kopfrechnen, zumal die Koryphäen in den 30 Sekunden auch noch die Züge notieren müssen. Das Adrenalin im Blut sinkt nicht mehr wie früher, als es nach 40 Zügen eine weitere Stunde Bedenkzeit hinzugab. Die Zeitnot hält nun bis zum Ende an. Und der Druck führt zu manchem Aussetzer. HARTMUT METZ