Pisa zwei als Munition im Wahlkampf

Im Sommer wird der zweite Teil der Pisa-Studie veröffentlicht – wahrscheinlich mit guten Ergebnissen für Bayern im innerdeutschen Vergleich. Wie sehr das Edmund Stoiber nützt, hängt davon ab, ob sich die Präsidentin der Kultusminister, Dagmar Schipanski (CDU), zu seinem Sprachrohr machen lässt

von CHRISTIAN FÜLLER

Wann darf man das schon erleben? Ein Politiker, der nicht auf alles und jedes eine schlaue Antwort geben muss. Der eingesteht: Ich weiß das nicht! Genauer gesagt, es war eine Politikerin, die sich vor wenigen Tagen mit diesen Sätzen als neue Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK) vorstellte. „Das ist mir jetzt nicht geläufig“, sagte Dagmar Schipanski (CDU) zu vergleichenden Bildungstests. „Das muss ich mir erst im Detail ansehen“, lautete die Antwort der Thüringer Wissenschaftsministerin, als nach Studieneingangsprüfungen gefragt wurde. Darauf ein kurzes, trotziges Lächeln. Und die nächste Frage, bitte!

Leider wich die Sympathie für den Typ „ehrliche Politikerin“ schnell einem Stirnrunzeln, einem Zweifel, einer Ahnung. Wie wird die so authentische Frau Schipanski dem Sturm standhalten können, der losbricht, wenn im Frühsommer die allenthalben angstvoll erwartete innerdeutsche Auswertung der Pisa-Studie veröffentlicht wird? Reicht ihr Selbstbewusstsein dann aus, um der konservativen Kamarilla in der KMK zu widerstehen? Es ist schwer vorhersagbar. Die rechtschaffene Naturwissenschaftlerin hat sich allerdings schon einmal von den Machthändlern der Union missbrauchen lassen. Damals, 1998, als sie sich als Bundespräsidentenkandidatin aufstellen ließ. Wir erinnern uns, dass es einem Wolfgang Schäuble damals wahnsinnig wichtig war, eine Frau als Kandidatin für das höchste Staatsamt zu nominieren. Aber es ging natürlich nicht um Dagmar Schipanski als Frau, sondern um sie als Instrument. Sie sollte die Restchance wahren, den SPD-Kandidaten Johannes Rau zu verhindern. Eine Frau war der letzte Trumpf, der gegen die linksliberale Mehrheit in der Bundesversammlung hätte stechen können – was er freilich nicht tat. Rau gewann. Es waren übrigens dieselben Frauen-in-die-Politik-Beschwörer, die Schipanski damals lobten und nun keinen Finger für Angela Merkel krumm machten, um deren Chancen auf die Kanzlerkandidatur auch nur zu wahren.

Die Möglichkeit besteht, dass Schipanski als KMK-Präsidentin auch jetzt wieder von ihren konservativen Parteifreunden als ein willkommenes Instrument gesehen wird – um aus der erweiterten Pisa-Studie (Pisa E) ganz andere Schlüsse zu ziehen, als wir es uns heute nach der für ganz Deutschland desaströsen Auswertung von Pisa International träumen lassen.

Die Hinweise darauf sind die folgenden: Pisa E erscheint überraschend schon am 30. Juni – mitten im Wahlkampf wird der Länder- und Schulformvergleich der peinlichen Befragung von 50.000 deutschen 15-Jährigen veröffentlicht. Bislang hieß es stets, der innerdeutsche Ländervergleich komme erst im Herbst. Also nach der Wahl. Nun kommt er vor der Wahl. Das ändert die Sachlage. Das wird ein Fest, ein Schlachtfest!

Während Schipanski die Juniveröffentlichung mutmaßlich erneut schockierend schlechter Ergebnisse ganz und gar ehrlich als „kein Problem“ ansieht, blitzen bei ihrem augebufften Generalsekretär Erich Thies (CDU) die Augen. Man müsse, sagt er eine Spur zu kühl, halt nur „sachgerechte Entscheidungen treffen“. Wie das? Wo doch schon Pisa International die Dichter-und-Denker-Nation in Mark und Bein erschütterte? Und warum nicht jetzt anfangen mit dem Konsequenzenziehen, wo doch die deutschen Mängel allzu deutlich auf dem Tisch liegen? (Extreme soziale Selektion, miserable Frühförderung, massive Geldzuflüsse ins Schulsystem erst, wenn die vermeintlich praktisch Begabten aussortiert sind etc.)

Gemach, heißt es in der KMK, wir müssen uns doch erst die deutschen Details anschauen! Die Details sind: Bayern hat (neben Baden-Württemberg) das am stärksten fordernde Schulsystem. Dort wird früh aussortiert. Dort gehen nur wenige aufs Gymnasium. Dort wird strenger gepaukt als anderswo. Dort gibt es keine Kuschelecken, wie es Exbundespräsident Roman Herzog in seiner Bildungsrede erfreulich offen sagte. Kurz, das Ergebnis von Pisa E könnte leicht so interpretiert werden: Bayern ist CSU ist Gymnasium ist spitze. Nordrhein-Westfalen ist SPD ist Gesamtschule ist sch … Oder: Stoiber versteht was von Bildung!

Bildung wird also nach dem jahrelangen sonntäglichen Blabla über die Bedeutung von Schule und Hochschule nun tatsächlich auf den zweifelhaften ersten Platz der politischen Agenda kommen – mitten im Wahlkampf.

Schon jetzt unternimmt der CSU-Kandidat Anläufe, mit dem Stichwort „Pisa“ seine Kernkompetenzen zu arrondieren. Krähte Stoiber nach der Pisa-Veröffentlichung noch negativ, die nicht integrierten Migranten trügen die Schuld am miserablen Abschneiden der deutschen Schüler insgesamt, so lässt er sich nun moderater, kanzlerkandidatenmäßiger, positiv vernehmen: Da müssen wir was tun! Damit steht das notdürftig gepolsterte Fallbeil immerhin um Längen vor seinem Konkurrenten. Der amtierende Kanzler hat bildungsmäßig bislang nur Negativschlagzeilen produziert: Gerhard Schröder war es, der Lehrer pauschal als „faule Säcke“ beschimpfte, was ihm heute noch wie eine Schiefertafel um den Hals hängt; er hat von heute auf morgen jahrelange Verhandlungen um das „Bafög für alle“ ad absurdum geführt, als er sagte, Erziehungsfreibeträge dürfe man nicht an erwachsene studierende Kinder auszahlen, weil damit Mutti und Vati das Eigenheim abstotterten. Und nicht einmal die spektakulären Äußerungen, die Doris Schröder-Köpf an seiner statt zum Thema strenge Erziehung abgab, konnten auf ihn abfärben. Auf einen Kanzler, dessen Freizeitverhalten von den Imagedesignern nun mal durch die Currywurst und Urlaub mit Bruno Bruni gründlich fehlkonstruiert wurde. Kein Vorteil, das.

In diese spannungsreiche Scheinwelt wird nun die ehrbare Dagmar Schipanski mit aufrüttelnden Pisa-E-Ergebnissen platzen. Mit ihrem unerschütterlichen Vertrauen darin, dass die Demokratie dazu da sei, „voneinander zu lernen“. Mit ihrem durch und durch seinsgeprägten Credo: „Ich bin konservativ. Ich lege das Bewährte erst beiseite, wenn mich das Neue überzeugt.“ Wir werden in der Tat alle viel lernen. Über Frau Schipanski, über die Kandidaten, über die Medien-Demokratie – aber wahrscheinlich leider nichts über die Schule.