Neue soziale Balance

LOHN UND BROT (3): Die Idee des „Grundeinkommens“ hat heute ausgedient. Es spricht vieles dafür: Arbeitslose suchen sich eher Arbeit, wenn man sie dazu zwingt

Praktische Erfahrungen auf dem Arbeitsmarkt legen nah, die Unterstützung für Arbeitslose zu begrenzen

Der Kommentator klagte: „Die Umstände zwingen zu dem Schluss, dass die heutigen verhältnismäßig hohen Arbeitslosenziffern weniger Folgen einer echten als vielmehr einer künstlich entstandenen Arbeitslosigkeit sind.“ Die „künstliche Arbeitslosigkeit“ entstünde durch den fehlenden Willen zu niedrig bezahlten Hilfsjobs. Denn der „Arbeitswille“ würde durch das Gesetz zur Arbeitslosenversicherung „totgeschlagen“.

Das Zitat entstammt einer Ausgabe der Deutschen Arbeitgeberzeitung vom Jahre 1928. Damals klagten die Bauern, dass man zur Erntezeit keine Hilfskräfte mehr fand, obwohl es in den Städten viele Erwerbslose gab, die „Stütze“ bezogen. Schon vor über 70 Jahren betrachtete man die Arbeitslosenversicherung mit Misstrauen. Der Verdacht war nicht auszuräumen, jemand könnte Leistungen in Anspruch nehmen, obwohl durchaus Jobs vorhanden seien. Der Missbrauchsverdacht also, „es könnte jemand essen, ohne arbeiten zu wollen, begleitet die Entwicklung des Sozialstaats seit seinen Anfängen“, erklärt der Sozialforscher Georg Vobruba.

Der Missbrauchsverdacht wird immer dann besonders heftig geäußert, wenn sich der Arbeitsmarkt verengt. Die Beschäftigten erleben dann mehr Jobstress und dadurch wächst die Sorge, die Joblosen könnten sich diesen Härten entziehen und es sich gemütlich einrichten mit der „Stütze“. Derzeit haben wir wieder eine solche Situation: Der Arbeitsmarkt wird enger. Die Erwerbslosenzahlen sind in die Höhe geklettert. Der weltweite Konjunktureinbruch und die Spätfolgen der Wiedervereinigung im Osten machen sich in einer hartnäckig verheerenden Arbeitslosenstatistik bemerkbar. Kein Wunder also, dass laut dem Meinungsforschungsinstitut Allensbach die Zahl der Deutschen wächst, die glauben, dass die Arbeitslosenunterstützung viele Joblose davon abhält, sich eine Stelle zu suchen.

In der Politik vollzieht sich ein Wandel, der diesem Misstrauen gerecht wird: Die möglichst rasche Integration der Erwerbslosen, die Vermittlung eines Jobs in der Privatwirtschaft stehen heute ganz oben auf der Hitliste der Sozialpolitik. Niemand spricht in dem gerade begonnenen Wahlkampf noch von „Grundeinkommen“ oder „Grundsicherung“. Um den Lebensstandard derjenigen, die keinen Job haben, geht es nicht mehr. Selbst beim Thema Kinder steht die Vereinbarkeit von Erziehung mit einem bezahlten Job an erster Stelle. Auch Ältere sollen demnächst nicht mehr so früh in Rente gehen. Der Jobmarkt muss alles richten.

Mit Rationalität hat das nichts zu tun: Es ist ein kultureller Wandel, Folge der Globalisierung.

Die Arbeitsmoral ist heute eine weltweit akzeptierte Moral. Überall auf der Welt gilt die bezahlte Erwerbsarbeit als der wichtigste Maßstab für Integration, staatliche Unterstützungen für die Arbeitslosen hingegen wurden zurückgefahren. In den USA kürzte man die Sozialhilfe drastisch und weitete die Jobprogramme aus. Auch in Großbritannien und in Dänemark wurden die Arbeitslosenunterstützungen in den vergangenen Jahren zeitlich begrenzt und die Vermittlungsaktivitäten der Arbeitsämter verbessert. Die Folgen in England waren deutlich: Die Arbeitslosenzahlen sanken, gleichzeitig vergrößerten sich die Einkommensunterschiede.

Die Alternativen für Deutschland scheinen also klar: Man kann sich gegen den globalen „Sozialtrend“ abschotten und die hohen Arbeitslosenzahlen ertragen. Schließlich werden bei uns viele Menschen als „arbeitslos“ geführt, die sich längst eingerichtet haben mit ihrer „Stütze“ und sich einen eigenen Überlebensstil gebastelt haben, der die seelischen Schäden begrenzt.

Die zweite Möglichkeit ist der interne „Sozialabbau“: Dabei bekommen mehr Leute eine Jobchance, aber sie müssen sich eben auch an einen härteren Arbeitsmarkt anpassen. Die Arbeitslosenzahlen dürften sich dabei verringern, aber man wird auch in Kauf nehmen müssen, dass jene weiter verarmen, die gar keine Chance mehr haben.

Dennoch spricht manches dafür, diesen zweiten Weg jetzt ein paar Schritte zu gehen – ohne sich dabei in die Tasche zu lügen.

Die Politik kündigt die Schritte schon an. SPD-Politiker und Grüne fordern Subventionen für Niedriglöhne einerseits und eine zeitliche Begrenzung der Arbeitslosenunterstützung andererseits. Der rheinland-pfälzische SPD-Arbeitsminister Florian Gerster und mehrere Wirtschaftsexperten sprechen sich für eine zeitliche Begrenzung des Arbeitslosengeldes auf ein Jahr aus. Gerster und die Grünen wollen die Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe verschmelzen, also abschaffen. Außerdem haben die Grünen sehr weit gehende Subventionsprogramme für Niedriglohnjobs vorgeschlagen.

Die zeitliche Begrenzung der Transferleistungen entspricht praktischen Erfahrungen auf dem Arbeitsmarkt: Viele Erwerbslose nehmen einen Job deswegen nicht an, weil er nur wenig mehr bringt als das Arbeitslosengeld, sich also „nicht lohnt“. Doch damit verlassen sie sich auf eine ungewisse Zukunft, das Jobangebot wird nämlich für sie nicht besser. So rutschen sie leicht ganz heraus aus dem Arbeitsmarkt. Die Chancen auf eine Wiedereingliederung sind umso höher, je kürzer die Phase der Joblosigkeit, das haben neuere Studien wieder ergeben.

Das künftige Thema im Sozialstaat ist weniger die Leistung als vielmehr die Beitragswilligkeit der Bürger

Eine zeitliche Begrenzung der Arbeitslosenunterstützung würde den Druck auf die Joblosen erhöhen, sie wäre jedoch unterm Strich eine Kürzung für manche Betroffenen, die örtlich gebunden sind oder sich aus gesundheitlichen Gründen gar nicht mehr eingliedern können. Opfer wären zum Beispiel manche älteren Langzeitarbeitslosen, die familiär gebunden in einer desolaten Ostregion von Arbeitslosenhilfe leben und dann ohne jede Aussicht auf einen „Kombilohn“-Job in die geringer dotierte Sozialhilfe sackten. Vielleicht ist das aber eine vertretbare Verschiebung: Arbeitslosenhilfeempfänger haben mit ihrer früheren Beschäftigung ein zeitlich unbegrenztes Recht auf ihre „Stütze“ erworben, die sich nach dem alten Nettolohn bemisst und vom Steuerzahler getragen wird. Sozialhilfeempfänger, also etwa allein erziehende Mütter, Behinderte oder abgestürzte Existenzgründer, bekommen ihre Transferleistung zu strengeren Bedingungen. Das ist unausgewogen.

Mehr Integration durch Arbeit – damit verabschiedet man sich zweifellos von der alten linken Idee des „Grundeinkommens“, bei dem ohne größeren Druck Stütze gezahlt wird. Den Abschied von dieser Idee als Sozialabbau zu geißeln, ist jedoch zu einfach. Das künftige Thema im deutschen Sozialstaat ist nicht nur die Leistung, sondern auch die „Beitragswilligkeit“ der Bürger. Wer das übersieht, der gefährdet das Wichtigste: die „Systemintegration“, also ein Grundvertrauen der Beitragszahler und Leistungsempfänger in das Gleichgewicht sozialer Sicherung. Das Vertrauen in dieses Gleichgewicht ist die Vorbedingung für alles Weitere. Wer es bewahren will, muss politisch flexibel sein. Sonst kommen bald jene an die Macht, die noch radikalere Einschnitte fordern. Die Gefahr ist größer, als man denkt.

BARBARA DRIBBUSCH