24 Stunden Einsamkeit

Es steht ernst um Otto Schily, einen der wichtigsten Minister für den SPD-Wahlkampf. Kritik kommt aus der eigenen Koalition, und der Kanzler schweigt

aus Berlin JENS KÖNIG
und PATRIK SCHWARZ

Es ist ein Skandal, der wie geschaffen ist für die leicht erregbare Berliner Medienrepublik. Es geht um Geheimdienste, V-Männer und Nazis, es geht um das höchste deutsche Gericht, um Informationspannen und um Schuld, die hin- und hergeschoben wird. Mittendrin ein Minister, hart wie ein Knüppel, penibel wie ein preußischer Beamter, einer, der sich auskennt wie kein Zweiter in jeder dieser Welten, in der Politik und in der Bürokratie, bei den Gerichten und bei den Geheimdiensten. Man kann sich lebhaft vorstellen, dass Gerhard Schröder am Ende dieser Woche richtig gute Laune hat. Gesagt hat der Kanzler bis gestern Nachmittag jedenfalls kein einziges Wort.

An Rücktritte ist der Kanzler im dritten Jahr seiner Amtszeit gewöhnt. So kann er denn nur zu gut die Zeichen dafür lesen, dass es gestern um seinen Innenminister Otto Schily ernster stand, als noch 24 Stunden zuvor irgendjemand für möglich gehalten hätte. Da sind zuerst die Grünen. Statt sich vor einen der wichtigsten Minister des kommenden Wahlkampfs zu stellen, gehen sie auf Distanz, die einen vorsichtiger, die anderen deutlicher. Selbst der sonst eher ausgleichende innenpolitische Sprecher Cem Özdemir empört sich vor den Türen des Innenausschusses: Der Vorfall sei „auf der nach unten offenen Dummheitsskala nicht zu überbieten“. Mit seinem Verhalten habe das Ministerium einen „Vertrauensbruch“ gegenüber dem Verfassungsgericht begangen: „Ich kann verstehen, dass das Gericht verärgert ist.“ Koalitionspartner in Angriffsstimmung sind für Kanzler immer ein Warnsignal.

Von Rücktritt kein Wort

Das andere Alarmzeichen am gestrigen Mittwoch war die Uhr: Erst um eine Stunde, dann um noch eine und schließlich um zweieinhalb weitere Stunden verschob Schily seinen Auftritt vor der Bundespressekonferenz. Als Verkehrsminister Klimmt auf dem Höhepunkt seiner Affäre vorzeitig eine Rechtfertigungs-Pressekonferenz abbrach, forderte das Kanzleramt ihn nur Stunden später zum Rücktritt auf. Kurz vor fünf tritt Schily schließlich vor die Presse.

Zu der unausweichlichen Logik solcher Skandale gehört, dass das Wort vom Skandal schon die Runde macht, bevor klar ist, worin genau dieser Skandal eigentlich besteht. Am Mittwochmorgen war zunächst nur so viel sicher: Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hatte am späten Dienstagnachmittag die mündliche Verhandlung im Verbotsverfahren gegen die NPD abgesagt. Der Grund: Ein Zeuge, langjähriges Mitglied des NPD-Bundesvorstandes, war ein früherer V-Mann des Verfassungsschutzes. Diese Information erhielt das höchste deutsche Gericht quasi per Zufall, am Telefon, durch eine Nebenbemerkung eines Abteilungsleiters im Bundesinnenministerium gegenüber dem zuständigen Richter.

Fragen über Fragen

Fragen über Fragen standen plötzlich im Raum: Platzt jetzt das ganze Verbotsverfahren gegen die NPD? Warum haben die Antragsteller – in diesem Fall die Bundesregierung – das Verfassungsgericht nicht schon bei der Eröffnung des Verfahrens über die Vergangenheit des NPD-Mannes informiert? Stammen etwa noch andere Belege im Verbotsantrag von V-Leuten des Verfassungsschutzes? Und was wusste Schily von diesem V-Mann?

Bei seiner verspäteten Pressekonferenz zeigt sich der harte Otto ganz weich – sich selbst gegenüber und seinen Mitarbeitern. Ein „krasser Fehler“ sei in seinem Hause passiert, gewiss, und seinen Mitarbeitern sei „eine Fehleinschätzung“ unterlaufen, als sie ihn nicht rechtzeitig über den V-Mann informierten. Aber, sagt der Minister, „ich bin gegen die Prügelstrafe.“ Deshalb hat er den zwei betroffenen Abteilungsleitern sowie seinem Staatssekretär Claus Henning Schapper die Entlassung erspart – und sich selbst den Rücktritt.

Hinter den verschlossenen Türen des Innenausschusses hatte der Minister zunächst noch versucht, sich über das Bundesverfassungsgericht zu beklagen. Keine Chance habe man ihm in Karlsruhe gegeben, seine Sicht der Dinge darzustellen. Auch sein zweiter Staatssekretär Fritz Rudolf Körper sagt vor der Ausschusstür über die Richter, die das Verbotsverfahren vorläufig stoppten: „Es verwundert der relative Schnellschuss dieser Entscheidung.“ Spätestens nach den ersten kritischen Fragen aus den Reihen der Koalition muss Schily dann aber aufgegangen sein, dass man sich als Minister besser nicht auf Kosten des Verfassungsgerichts zu retten versucht.

Die Rolle des Anklägers übernimmt Erwin Marschewski, innenpolitischer Sprecher der Unionsfraktion. Zweimal tritt er im Verlauf der Sitzung vor die Tür, zweimal fordert er den Rücktritt des Ministers. Schily habe erst auf Befragen der Opposition eingeräumt, dass nicht ein, sondern zwei Abteilungsleiter von dem V-Mann wussten – und sein Staatssekretär Schapper auch. „Er wollte seinen Parteifreund schützen“, sagte Marschewski, „das geht zu Lasten der Wahrheit.“ Der Ankläger sagt außerdem: „Wir werden bis zur Bundestagswahl Wahlkampf machen.“

Kritik von den Grünen

Überhaupt: der Wahlkampf. Auch dass sich von den grünen Koalitionsfreunden niemand vor ihn stellen mag, hat mit dem Wahlkampf zu tun. Da wollen die Grünen sich als Geheimdienstkritiker profilieren. Ein Geheimdienstbeauftragter mit weitreichenden Kompetenzen müsse her, fordert Özdemir. Der Unionsabgeordnete Wilhelm verlässt nur kurz den Saal, verschwindet wieder mit dem Satz: „Wird noch spannend, wie er seinen Rücktritt formuliert.“ Der SPD-Innenexperte Dieter Wiefelspütz sieht Schily so sehr in Bedrängnis, dass er sogar versucht, ein wenig Schuld auf die eigenen Schultern zu nehmen: „Ich bin selbst Richter gewesen“, sagt er, „und ich bin nicht sicher, ob ich nicht selbst einer solchen Fehleinschätzung erlegen wäre.“

Schily hat seinen Mitarbeitern eine „scharfe Rüge“ erteilt. Ansonsten hat der Minister sich bis zum Schluss um die öffentliche Sicherheit gesorgt. Als nach der Foltersitzung des Innenausschusses die Fotografen und Kameraleute erst über sich selbst und dann beinahe auch über den Minister stolpern, sagt Schily nur einen Satz: „Tun Sie sich nicht weh, meine Herren!“