„Auf der Straße ist es Rutschbahn“

Gedenken an Euthanasie: Michael Batz' Dokumentarstück „Spiegelgrund und der Weg dorthin“  ■ Von Petra Schellen

„Was ist der Unterschied zwischen Sonne und Mond? – Der Mond ist größer.“ Einen poetischen Dialog hat der Theatermacher Michael Batz in Akten zu den Alsterdorfer Euthanasie-Versuchen der Nazi-Zeit gefunden. „Was ist der Unterschied zwischen Herunterspringen und Fallen? – Man bricht sich das Bein oder ist tot.“ Prägnant und verdichtet spiegeln Sätze wie diese die verkehrte Welt, das „zusammenbrechende Weltgebäude“, unter dem die aus Alsterdorf in Tötungsanstalten verlegten Patienten litten.

„In der Straße ist es Rutschbahn“, hatte eine andere Patientin gesagt. Wieder ein Zitat aus den Akten, die Batz gesichtet hat, um das Dokumentarstück Spiegelgrund und der Weg dorthin zusammenzustellen, das Teil einer offiziellen Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus der Hamburger Bürgerschaft ist. „Ich hatte kein Interesse daran, die Geschichte der Euthanasie zu rekapitulieren: Dies kann man alles nachlesen, und trockene Vorträge behindern die Auseinandersetzung mit dem Thema oft eher“, sagt Batz, der im vorigen Jahr zum gleichen Anlass ein Oratorium für die von den Nazis ermordeten Sinti- und Roma schrieb.

„Mich interessieren spezifisch Hamburgische Geschichten – Porträts und Einzelschicksale, für deren Kenntnis man die Akten studieren muss.“ Über 600 Behinderte wurden aus den Alsterdorfer Anstalten in Tötungsanstalten der „Euthanasie“ transportiert; über 500 von ihnen wurden dort ermordet. Leiter der Alsterdorfer Anstalten, in denen es ebenfalls wenig human zuging, war der evangelische Pastor Friedrich Lensch, ein Anhänger der Eugenik. Der Leitende Oberarzt war damals Dr. Gerhard Kreyenberg. Er veranlasste akribische Notizen über das Alltagsverhalten der Insassen. „Dabei ist es natürlich ein Problem, dass all diese Materialien von den Tätern erstellt wurden.“ Aber angesichts der Tatsache, dass sie oft die Poesie und Kreativität dessen, was die Patienten sagten und taten, nicht begriffen, konnten sie sie auch nicht verfälschen.

„Ihr Heiligen, nehmt doch eure Hauben ab, runterschlagen müsste man sie“, sagte zum Beispiel ein Patient; ein anderer „sträubte sich sehr, redete den Arzt mit „Fräulein“ an. „So etwas hat doch Stil“, findet Batz, dem es im seinem zwölfteiligen Stück explizit darum ging, „den Individuen ihre Würde wiederzugeben, ihre Skurrilität und ihren Humor zu zeigen und die subtilen Formen des Widerstands zu zeigen. Denn einige versuchten sehr deutlich, ihre eigene Logik gegen die Anstaltslogik zu setzen.“

Den „Schwachsinn“ – so der damalige Jargon – zu beobachten und zu heilen war zunächst erklärtes Ziel der Anstaltsärzte – ein Grund dafür, dass von der Ahnentafel bis in winzigste Verhaltensfacetten alles über die Patienten notiert wurde. Ob der Onkel ein „Trunkenbold“ war, ob die Familie aus dem Gängeviertel kam – alles wurde vermerkt, um die These vom „erblichen Schwachsinn“ zu untermauern. „Viele kamen aus vielen Gründen nach Alsterdorf“, vermerkt das Stück. „Der eine war Kleinkind. Der anderer war schon über 70“ – eine subtile Umschreibung der Tatsache, dass auch verhaltensauffällige und politisch abweichende Menschen dort eingewiesen wurden. Die Vernichtungskriterien waren für alle gleich: Überflüssige Esser wurden „ausgesondert“ und von Alsterdorf in Tötungsanstalten wie Spiegelgrund verlegt – und dass dies die Auslöschung bedeutete, war den Ärzten, so Batz „spätestens seit 1941 klar. Gewehrt haben sich die Ärzte aber höchstens punktuell – ein Thema, über das die Hamburger Ärzteschaft noch heute höchst ungern spricht.“

Klar ist indessen, dass die Überreste der oft durch Aushungern ermordeten Patienten auch über ihren Tod hinaus karrieresüchtigen Ärzten zum Ruhm gereichten: Noch 1955 hätten damals obduzierenede Ärtze in einer Schrift die medizinische Besonderheit des Hirnpräparats einer ehemaligen Alsterdorfer Patientin betont, das noch in der „Gehirnkammer“ des Psychiatrischen Krankenhauses „Baumgartner Höhe“ und im renommierten Ludwig-Boltzmann-Institut in Wien lagerte. Es war das Hirn der Lübeckerin Heide Grube, an dem man 10.000 histologische Schnitte vorgenommen hatte, aus denen Präparate gewonnen wurden. „Zehn solcher Hirne hat man 1996 nach Hamburg zurückgeholt und beerdigt; im April soll, soweit ich weiß, ein weiteres Hirn beerdigt werden.“ Ob noch weitere Präparate dort lagern, sei derzeit nicht zu sagen. Wichtig sei aber – und das versucht Batz mit seinem 70-minütigen Stück – die humorvollen, komischen, poetischen, kreativen Seiten der Patienten hervorzuholen.

Gesprochen wird der dokumentarische Text von vier Schauspielern – Michael Bidella, Kurt Glockzin, Jasmin Buterfas und Karin Winkler. Die Musik wurde, wie schon beim Oratorium für die ermordeten Sinti und Roma, von Stefan Romeyan komponiert; Akordeon, Violine und Bass kommen hinzu. Der Charakter der Musik: Nicht so tonal wie beim Oratorium. Und auch die war schon nicht lieblich.

heute, 18 Uhr, Rathaus, Großer Festsaal