Die Idee vom Lonely Living

Die Einsamkeit des Autors, das „Pochen zwischen den Schläfen“, die Unmittelbarkeit des Gegenwärtigen und Satzteile, die wie Diagonalen zueinander stehen: Bei der Kreuzberger Literatur Werkstatt im Breakout geht es um harte Textanalyse. Ein Besuch

Nach der Pause ist der Umgangston untenim Keller dennoch kämpferischer geworden. Einzelne junge Männer mühen sich,aggressive Professionalität auszustrahlen

Das Breakout am Kreuzberger Marheinekeplatz ist eine Gaststätte, die von Mitgliedern der ansässigen Kirchengemeinde betrieben wird, ein so genanntes Stadtteilprojekt. Hinter der schmalen Theke warten freiwillige Helferinnen auf Kundschaft, auf Menschen, die ausbrechen wollen „aus dem lonely living“, wie es in der Speisekarte heißt. Ausgestattet mit der selbstbewussten Freundlichkeit des Ehrenamtes bieten die Tresenfrauen Getränke und kleine Kartoffelgerichte zu niedrigen Preisen an. Eine Fassbrause kostet zum Beispiel nur eine Mark fünfzig. Zur weiteren Unterhaltung der Gäste steht am Eingang ein Regal mit Brettspielen bereit.

Der Ausbruch aus der Isolation ist ein Thema, das sich durchzieht im Breakout. Freitag Abends belegt die Kreuzberger Literatur Werkstatt den Keller des Lokals. Ambitionierte Schreiber können hier einem interessierten Publikum ihre Texte vorlesen. Auch Lyrik wird besprochen, kritisiert, verworfen etc. Es gilt, die Einsamkeit des Autors mit dem geschriebenen Wort, sozusagen das literarische Lonely Living, zu überwinden.

Auch an diesem Abend haben sich dafür knapp 30 überwiegend junge Menschen in dem gelb gestrichenen Kellerraum versammelt. Die Stühle sind aus braunem Plastik, in der Ecke stehen zwei ausrangierte Computerbildschirme, die Luft ist dünn. Die Enge ähnelt jenen beklemmenden Seminarsituationen, wie man sie aus dem Studium an einer Massenuniversität kennt.

Im Halbdunkel einer Ikea-Lampe begrüßen sich die Gäste teils herzlich, teils nur mit einem knappen Nicken. „Du warst immer Bronski“, fängt ein schwarz gekleideter junger Mann mit leiser, rhythmisch gehetzter Stimme zu lesen an. Zerrissene Sätze über internationale Hotelzimmer, Zigarettenrauchen, das „Pochen zwischen den Schläfen“ kommen vor – die ganze Geworfenheit einer Beat-Erzählung. Und die Gäste – fest entschlossen, in dieser Runde im Fach Textanalyse gegeneinander zu bestehen – liefern denn auch gleich die entsprechende Deutung. Einer, der aussieht wie ein Gymnasiast, vergleicht den Text überschwänglich mit einem Werk von William S. Borroughs, andere loben „das assoziative Element“. Der Autor wirkt bei der Kritik indes irgendwie innerlich abwesend, starrt auf einen imaginären Fluchtpunkt, manchmal blinzelt sein linkes Auge nervös. So als hätte ihn die Unmittelbarkeit des Gegenwärtigen schneller eingeholt als erwartet.

Beim nächsten Beitrag ist das Publikum ratloser. Dabei hat die Autorin in ihr Gedicht „ganz viel Emotionen reingepackt“, wie sie versichert. Es dauert eine ganze Weile, bis sich eine blonde Zuhörerin die Antwort in vermeintlicher Feuilletonsprache ausgedacht hat, nämlich dass hier die „Satzteile wie Diagonalen, nicht wie Linien zueinander stehen“. Der Dichterin entfährt ein flatterndes Lachen. Sie hatte eigentlich nur einen Sonntagsspaziergang im Münsterland schildern wollen. Nach einem weiteren Lyriktext scheint das Vokabular der Kreuzberger Literaturkritik fürs Erste erschöpft, die Lesung wird für eine Pause unterbrochen. Der Beat-Autor steht oben allein am Tresen und trinkt ein Hefeweizen. Er hat sich einen dunklen Mantel übergezogen. Man stellt sich vor, dass so wohl jemand aussieht, der sich zum Schreiben in ein dunkles Zimmer mit Ofenheizung vergräbt.

Auf der Theke liegt immer noch die Speisekarte: „Raus aus dem Trott, rein ins Breakout“, steht da und „Kreuzberg lebt“. Wie oft bei solchen Parolen, befördert der in der Behauptung liegende Trotz eher die Vermutung des Gegenteils. Bisweilen kommen jedoch tatsächlich Besucher aus der Schweiz im Keller vorbei, „um die Literaturszene Berlins zu erschnuppern“, wird später ein blasser junger Mann erzählen, einer der Organisatoren der Literaturwerkstatt.

Das Klima dieses Autorenforums sei obendrein wesentlich toleranter als bei vergleichbaren Veranstaltungen in der Stadt, sagt er. „Hier wird niemand runtergemacht.“ Nach der Pause ist der Umgangston unten im Keller dennoch kämpferischer geworden. Die Gruppe diskutiert anhand einer kleinen authentischen Liebesgeschichte, ob Tagebucheinträge dem Anspruch von Literatur standhalten können.

Einzelne junge Männer mühen sich, geradezu aggressive Professionalität auszustrahlen; das bisschen Selbstironie, das es am Anfang gegeben haben mag, scheint sich irgendwo zwischen Buddenbrooks-Zitaten und Sauerstoffmangel verflüchtigt zu haben. Es mag sich aus einer unbewusst empfunden Konkurrenzsituation heraus ergeben, dass Menschen Anfang zwanzig seltsame Sätze sagen, wie „Ich präzisiere, es gibt keinen Erzähler, es gibt zwei Stimmen“. Vielleicht erhoffen sich einzelne beim Ringen um die Deutungshoheit, eine anderswo fehlende Anerkennung zu erlangen, einen Zugewinn an kulturellen Kapital oder den Zugang zu irgendeiner Erwachsenenwelt; vielleicht wird hier auch nur für ein Bewerbungsgespräch für ein Praktikum bei einer Literatursendung von Arte geübt – aber das bleibt unklar. Das eigene Befremden steigert sich jedenfalls in müdes Unwohlsein, und die Idee vom Lonely Living beginnt schließlich spürbar an Attraktivität zu gewinnen.

Vor der letzten Geschichte hat man sogar ein wenig Angst. Der Autor, ein kleiner dunkelhaariger Herr Mitte 40, ist den ganzen Abend still und schwitzend auf seinem Stuhl gesessen. An seinem Hals haben sich hektische Flecken gebildet, der Text, kann man sehen, ist mit enger, kritzeliger Schrift auf mehrere weiße Blätter geschrieben, eine existenzielle Verzweiflung am Dasein teilt sich spürbar mit. Die Geschichte, die er schließlich mit haspelnder Stimme vorliest, ist aber dann doch sehr schön. Sie handelt von 27 Obdachlosen, die in der Adventszeit ein 5-Sterne-Hotel überfallen, den Barkeeper als Geisel nehmen und die Herausgabe sämtlicher Minibars fordern; gleichzeitig verliert sich eine Gruppe Paschtunen in diffusen antikapitalistischen Umsturzbewegungen. Das Ganze endete in einer Art durchgedrehten Apokalypse.

Bevor die anderen Besucher der Literatur Werkstatt über den Text herfallen können, geht man schnell nach oben zum Getränkeausschank. Dort warten die Tresenfrauen immer noch geduldig, dass der Freitag Abend vorbei geht. KIRSTEN KÜPPERS

Die Offene Kreuzberger Literatur Werkstatt beginnt jeden Freitag um 20 Uhr im Breakout am Marheinekeplatz in Kreuzberg