Die Seele des Spektakels wohnt im Osten

Das Sechstagerennen und seine wechselvolle Geschichte: Unter den Nazis fand es nur einmal statt – mit Protest gegen Verbot des „jüdischen Walzers“

Die Rennen gehören zu den Zwanzigern, ein Sinnbild ihrer Dekadenz und Wildheit.

Als der erfolgreiche DDR-Radsportler Uwe Freese 1989 nach Westberlins fahren durfte, um sich das berühmte Sechstagerennen in der Deutschlandhalle anzuschauen, brach für ihn eine Welt zusammen. Rund zwanzig Jahre nach dem Abriss des Sportpalastes an der Potsdamer Straße 1972 waren die Berliner Sixdays kaum mehr ein Schatten ihrer selbst: „Da war nichts, das war tot“, erinnert sich Freese an die letzte Sechstageveranstaltung im Berliner Westen. Nichts mehr erinnerte an die große Zeit in den Zwanzigerjahren, als laut Egon Erwin Kisch „Logen und Galerien lückenlos besetzt“ und „Bezirke im Norden und Süden entvölkert“ waren. Kaum mehr war geblieben als ein heruntergekommener Rummel mit einer im Wettbewerb der Sensationen weit abgeschlagenen, unzeitgemäßen Hauptattraktion.

Da war Freese aus der Werner-Seelenbinder-Halle am Prenzlauer Berg anderes gewöhnt. Die Winterbahnrennen der DDR, bei denen auf Anordnung der zentralen Sportverwaltung alle Radsportweltmeister und Olympiasieger an den Start gingen, waren ein wahrhaftiger Schlager beim Publikum. Einen Monat lang dauerten die Wettbewerbe, und jeden Abend kamen drei- bis fünftausend Zuschauer. „Wir hätten aber auch 30 bis 50 Tausend Karten verkaufen können“, so der damalige Fahrer Freese, der heute Radsporttrainer am Berliner Olympiastützpunkt ist.

Etwa 70.000 Zuschauer werden in diesem Jahr voraussichtlich das Sechstagerennen im Velodrom besuchen, das 1997 aus Mitteln für die missglückte Olympiabewerbung an die Stelle der ehemaligen Seelenbinder-Halle gebaut wurde. Für Freese liegen die Ursachen der wieder aufgelebten Sechstage-Begeisterung auf der Hand: „Wenn ich durch die Ränge gehe“, meint er, „habe ich das Gefühl, ich kenne jeden Zweiten.“ Etwa 90 Prozent Ostbesucher waren es am Anfang, schätzt Freese, mittlerweile habe sich das durchmischt. Allerdings, meint Freese, bilden die Winterbahn-Nostalgiker aus dem Ostteil der Stadt und dem Umland die „Seele“ der Berliner Sixdays.

In den Zwanzigerjahren wurde das Rennen als ein Auswuchs einer aus den Fugen geratenden Konsumgesellschaft beargwöhnt. Als „Manometerskala einer Menschheit, die mit Wünschen nach äußerlichen Sensationen geheizt ist, mit ekstatischem Willen zum Protest gegen Zweckhaftigkeit und Mechanisierung“, beschrieb Kisch in seiner berühmten Reportage „Elliptische Tretmühle“ von 1919 das Berliner Sechstagerennen und fügte an: „Dieser Protest erhebt sich mit der gleichen fanatischen Sinnlosigkeit wie der Erwerbstrieb, gegen den er gerichtet ist.“

Die Zahlen und Namen der Künstler und Intellektuellen, die sich, wie Kisch, mit dem Treiben im Sportpalast beschäftigten, zeigen, wie sehr es als Inbegriff des Zeitgeistes faszinierte: Georg Kaiser widmete dem Sechstagerennen schon 1912 das Theaterstück „Von Morgens bis Mitternachts“ , der Maler George Grosz zeichnete 1913 das Geschehen. Ödön von Horvath schrieb ein „Kleines Sportmärchen“ genannt „Aus dem Leben einer Rennfahrerfamilie“, und Alfred Kerr reimte lakonisch: „Hundertvierzig Stunden machen Sie egalweg Runden. Und wem zu stark die Rübe döst, wird vom Partner abgelöst.“

Das Sechstagerennen war in den 70ern des 19. Jahrhunderts in Großbritannien als Vergnügen der Oberschicht entstanden und über den Madison Square Garden in New York nach Berlin und Paris gekommen. Der Berliner Reporter Fredy Budzinsky hatte dem deutschen Publikum die Kunde von den Heldentaten des Deutschen Walter Rütt auf der New Yorker Bahn überbracht und so den Weg für das erste Berliner Sechstagerennen bereitet. Das fand 1909 noch in den Ausstellungshallen am Zoo statt, zwei Jahre später wurde der Sportpalast eröffnet. Bis 1972 fanden 265 Radveranstaltungen im Sportpalast statt, 171 davon alleine zwischen 1919 und 1933, bevor die Nationalsozialisten das Spektakel mit Hinweis auf die angeblich jüdischen Veranstalter beendeten.

So blieben die Sechstagerennen im Sportpalast vor allem mit den Zwanzigerjahren verbunden, wurden zum Sinnbild ihrer Dekadenz und Wildheit. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte sich der Alltag von Grund auf verändert: moderne Formen der Massenkommunikation und des Transports, Kino, Radio, Autos und Luftschiffe erweiterten den Horizont in einer Geschwindigkeit, die der Einzelne kaum mehr verarbeiten konnte. Mit der Kaiserzeit hatte man sich zudem traditioneller Hierarchien entledigt. Die gesamte Gesellschaft organisierte sich neu.

Das alles ließ sich im Sportpalast wie kaum woanders erleben. Alle sozialen Schichten eilten dorthin. Stellvertreter für dieses neuartige demokratische Erleben war das Sportpalast-Faktotum Reinhold Franz Habisch, genannt „Die Krücke“: Mit 16 Jahren hatte er all seine Hoffnungen auf eine Rennfahrerkarriere nach einem Unfall mit der elektrischen Straßenbahn aufgeben müssen.

Mit dreisten Zwischenrufen und Pfeiffkonzerten organisierte Habisch den „Heuboden“ und machte die billigen Plätze zur wahren Macht im Haus. Selbst die Nationalsozialisten bekamen dies beim einzigen Sechstagerennen nach der Machtübernahme 1933 zu spüren, als sie den Sportpalastwalzer aus rassischen Gründen verboten. Unter der Leitung von Habisch und dem Heuboden pfiff die ganze Halle „ihren“ Walzer, den der Wiener Jude Siegfried Translateur komponiert hatte.

Schon die ersten Sechstagerennen nach dem Krieg – zunächst am Funkturm, ab 1953 im wieder aufgebauten Sportpalast – hatten den Blick rückwärts gerichtet. Sie waren Zeichen einer zum Alltag zurückfindenden Zivilgesellschaft, die nur die Zwanziger als Vorbild hatte. Und noch heute regiert auf den Rängen die Nostalgie: nach schlichteren Vergnügungen angesichts des Massenentertainments des Medienzeitalters. Und, beim Ostpublikum, nach der Vorwendezeit, als die Winterrennen in der Publikumsgunst ganz vorne standen. Dem Veranstalter ist es einerlei: Hauptsache, das Velodrom ist voll. SEBASTIAN MOLL