Gegen die Logik des Vergessens

Zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus: Der Dokumentarfilm „Paragraph 175“  ■ Von Gerd Bauder

Merkwürdig: Erst 1994 wurde der Paragraph 175 – der deutschen Rechtsprechung 1871 zur Unterbindung von „Sodomiterei und ähnlichen Sünden“ implantiert und während des Nazi-Regimes als Rechtsgrundlage zur Ermordung von Lesben und vor allem Schwulen ausgelegt – ersatzlos gestrichen. Nun wissen wir alle, dass das goldene Zeitalter der Gleichberechtigung noch längst nicht angebrochen ist. Die Aufhebung des „Anti-Schwulen-Gesetzes“, das nach 1945 zwar gemäßigt wurde, aber immerhin bis 1969 gleichgeschlechtliche Liebe als Straftat verstand, kann also nur bedingt als progressiver Akt gelten.

Die kaum öffentlich diskutierte Abschaffung des unhaltbaren Paragraphen steht vielmehr für eine Vergangenheitsbewältigung, die im Vergessenwollen ihr Heil sucht. Dafür spricht unter anderem die bis heute von der bundesrepublikanischen Regierung verweigerte offizielle Anerkennung des an Homosexuellen begangenen Unrechts während des Dritten Reiches.

Gegen diese Logik des Vergessens wendet sich der Dokumentarfilm Paragraph 175, der US-Regisseure Rob Epstein und Jeffrey Friedman. Zu ihrem Film sagen sie: „Als Schwule und Juden hatten wir offensichtliche persönliche Gründe, uns mit diesem Thema zu befassen. Wir fühlten eine gewisse Dringlichkeit, dieses Projekt zu machen, solange es noch Zeugen gab. Als Filmemacher waren wir darüber hinaus von der Ambivalenz der Thematik fasziniert. Da waren homosexuelle Opfer und Widerständler und homosexuelle Nazis und Sympathisanten.“

Durch diesen Zugang gelingt es den Dokumentaristen, Geschichte mehr sein zu lassen als eine bloße Aneinanderreihung von Daten und Fakten. Paragraph 175 ist ein Lehrstück, kommt aber niemals moralinsauer daher. Dazu ist der Film zu spannend und zu ehrlich erzählt. Auf das optische Illustrieren der Nazi-Greuel wird bewusst verzichtet. Es gibt keinerlei Bilder von Leichenbergen oder Hinrichtungen.

Auch die Arbeit mit der Tonspur zeichnet sich durch Zurückhaltung aus. Mit Ausnahme einer Szene wird niemals, wie etwa in Steven Spielbergs dokumentarischen Arbeiten, durch „ergreifende“ Musik die Schwere des Vermittelten sig-nalisiert. Paragraph 175 konzent-riert sich ganz auf die von den port-rätierten, seinerzeit Verfolgten Schwulen erzählte(n) Geschichte(n).

Nach einem kurzen Abriss der Historie des Paragraphen lernen die Zuschauer sozusagen gemeinsam mit dem Interviewer Klaus Müller die Protagonisten kennen. In einer ersten Annäherung an die sehr betagten Personen gelingt es Müller in einfühlsamer Weise, eine Vertrauensbasis zu legen. Auch deswegen, weil er sich zunächst auf deren Coming-out bezieht, das eben vor 1933 stattfand. Sehr heiter und mitunter komisch lassen die Protagonisten diesen schönen Teil ihrer Geschichte Revue passieren.

Dabei erfährt man Erstaunliches: etwa vom generell liberalen Umgang mit Homosexualität zumindest im Berlin der Weimarer Republik, wo es trotz des Paragraphen 175 eine offene schwule Szene gab. Die Freude schwindet schlagartig, als das Reden über die Nazizeit beginnt. Müller miss-braucht dabei aber nie das Vertrauen der Opfer.

Das in keinster Weise sensa-tionslüsterne Zeigen und Benennen ihrer seelischen und körperlichen Verletzungen macht klar, was eine der vielen Lehren aus der Geschichte sein muss: Wie groß das angerichtete Leid und der Drang, sich nicht damit auseinander setzen zu wollen, auch immer sein mögen, das Mindeste, was Opfern widerfahren sollte, ist die Möglichkeit, ihr Versehrtsein mitteilen zu können. Paragraph 175 ermöglicht das seinen Protagonis-ten.

Den Zuschauern wiederum verschafft der Film, neben der „Bekanntschaft“ mit fünf außergewöhnlichen Menschen, Zugang zu einer zwar anstrengenden aber letztlich unabdingbaren Beschäftigung mit der Vergangenheit. Diese fordert keine Lippenbe-kenntnisse von Schuld, sondern ein tieferes Verstehen der Strukturen, die Menschen dazu bewegen, anderen Leid zuzufügen.

Preview (mit dem Kameramann Bernd Meiners und der Präsidentin der Bürgerschaft, Dorothee Stapelfeldt): So, 11 Uhr, Abaton; der Film startet am 7.2.