Unter Vatermördern

Nur ein Faun in kurzen Hosen: Nachdem sein Vertrag zum Ende 2002 gekündigt wurde, hat Johann Kresnik mit „Picasso“ sein letztes und schwächstes Tanztheaterstück an der Volksbühne inszeniert

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Picasso auf dem Kunstmarkt: Kein anderer Maler ist so oft auf Messen vertreten, auf Auktionen erreichen die Bilder schwindelerregende Preise, für Ausstellungsmacher liefert sein Werk einen unerschöpflichen Pool populärer Themen. Picasso ist zum Markenzeichen geworden. Niemand eignet sich mehr, um ein Lehrstück über den Weg von der Kunst zum Merchandising-Paket zu inszenieren und die Ausstrahlung eines Lebens als Ware auf dem Medienmarkt zu verfolgen.

Das könnte man von „Picasso“ in der Volksbühne erwarten, dieser moralischen Anstalt für Kapitalismus- und Medienkritik. Doch „Picasso“ in der Volksbühne, das ist ein Faun in kurzen Hosen und gestreiftem Hemd. Man erkennt ihn gleich von seinen Fotos wieder, aber jedes Bild strahlt mehr Witz, Kraft und Lust aus, als seine vielen Verkörperungen auf der Bühne. Ob sie durch Bilderrahmen klettern, sich an Frauenleibern abarbeiten, mit Fahrradsattel und Lenker den Stier mimen, mit Masken tanzen oder mit Brettern bewaffnet den Krieg symbolisieren: Mehr als gymnastisch möchte man die gequälten Bemühungen ihrer angestrengten Körper nicht nennen. Das Gerangel füllt die Zeit zwischen den Bildern, in denen Requisiten und Kostüme als Bedeutungsträger wichtiger geworden sind als das Ensemble.

Über Picassos Kunst erfährt man nicht mehr, als dass sie aus der Zerstörung schöpft: Eigentlich bedient die Inszenierung alle negativen Klischees über die moderne Kunst. Es gibt neun Verkörperungen von Picasso und sieben seiner Frauen. Mehr Personal kennt das Stück nicht, und wo es in früheren Künstlerbiografien von Johann Kresnik wie „Pasolini“, „Frida Kahlo“ oder “Goya“ noch um einen Konflikt zwischen Künstler und Gesellschaft ging, schrumpft Picassos Geschichte auf ein wenig Boheme und diffuse Verzweiflung zusammen.

„Picasso“ ist das letzte Stück des choreografischen Theaters von Johann Kresnik an der Volksbühne und sein schlechtestes. Dass Kresnik und sein Ensemble schlicht keine Lust und keine Einfälle mehr hatten, ist zu vermuten und nicht verwunderlich. Im September letzten Jahres wurden die Verträge des Ensembles zum Ende der Spielzeit 2002 gekündigt, das Tanztheater mit Einverständnis des Senats aufgelöst. Natürlich protestierten die Tänzer und sahen sich erstens als Opfer einer den Tanz missachtenden Kulturpolitik in deutschen Städten überhaupt und zweitens als Verlierer in einem Kampf politisches Theater gegen Vergnügungsindustrie. Dass die übrige Volksbühne auf diesem schwierigen Gelände jeden Tag neue Finten und Camouflagetechniken erfindet, die das eine nicht mehr gegen das andere ausspielen lassen, muss ihnen entgangen sein.

Der Intendant Frank Castorf rechtfertigte die Auflösung des Choreografischen Theaters mit seiner Rolle als „verantwortlicher Chef eines mittelständischen Unternehmens“, der für die Fortführung des unterfinanzierten Spielbetriebs ein Opfer bringen müsse. Auf Kritik an Kresnik ließ er sich öffentlich nicht ein. Und dennoch: Die Abschiebung von Kresnik ist ein kleiner Vatermord, über den sich niemand mehr groß empören will. „In der Kunst muß man den eigenen Vater töten“ ist die zweite Szene des Picasso-Stückes mit einem Zitat des Malers überschrieben. Und weil das ernst gemeint ist, ist es zugleich unfreiwillig komisch.

Kresnik ist ein ästhetischer Vatermörder aus innerer Berufung, der jetzt mit einer Generation konkurriert, denen die väterliche Autorität als natürliches Feindbild abhanden kam. Dazwischen aber steht die Generation Castorf und Marthaler, die von den historischen Leistungen des bildermächtigen Tanztheaters eines Kresnik viel gelernt haben.

Es war eine Revolution, als er Ende der Sechzigerjahre Pop, Rudi Dutschke und Bildzeitungen auf Stadttheaterbühnen brachte, um gegen die Notstandsgesetze zu protestieren. Er zerfetzte festgefügte Bühnenformen, um in den Rissen das Leiden an der deutschen Geschichte und den Normen der Familie sichtbar werden zu lassen. Dieser dynamische Schub hat nicht nur den Tanz sondern auch das Theater nachhaltig verändert. Das alles aber lag schon lange zurück, als Kresnik an die Volksbühne kam. Nur: Auch die Volksbühne steht wie kein anderes Theater in Berlin für ein Phänomen der Neunzigerjahre, in denen Theorie und Philosophie plötzlich als Pop gehandelt wurden. Thesen von Philosophen und Medienkritikern, für die Revolution nicht mehr eine Frage der Kraft des Glaubens, sondern der Strategien der medialen Vermittlung ist, sind an die Stelle jener bildungsbürgerlichen Tradition gerückt, gegen deren vermeintliche Autorität Kresnik immer noch Sturm läuft. Die Volksbühne ist der öffentliche Ort, sich Diskurse einzuverleiben.

Von Märtyrern in der Kunst und Politik dagegen will man nicht mehr viel wissen. Der Wende- und Globalisierungsverlierer leidet anders. Märtyrer aber waren Kresniks Spezialität. Ob es um Kapitalismuskritik ging, um das Bebildern psychoanalytischer Konstellationen oder die Konflikte eines Künstlers zwischen höfischer Repräsentation und bürgerlicher Emanzipation, stets gab es an Tod und Auferstehung gemahnende Bilder, Nagelbetten und andere Kreuzigungen. Auch in „Picasso“ schwebt am Ende eine brennende Staffelei, o verratene Wahrheit der Kunst, über der Bühne.

Als Spezialist für den Catholic Taste bleibt Kresnik der Stadt übrigens erhalten. An der Deutschen Oper hat im Juni „Saint François d’Assise“ von Oliver Messiaen Premiere, in der musikalischen Leitung von Marc Albrecht, Inszenierung Johann Kresnik.

„Picasso“, heute und 26.1., 19.30 Uhr, Volksbühne am Rosa Luxemburg Platz