ICE statt Wattewölkchen

Pisa und die Folgen: Auf einer Fachtagung diskutierten Erzieherinnen den Bildungsauftrag von Kindertagesstätten. Von den Konzepten der Politik, Kinder früher einzuschulen, hielt niemand etwas

von SABINE AM ORDE

Vor der Wand mit der Dampflok aus Tonpapier, aus deren Schornstein Watte quillt, stehen zwei Fünfjährige. „Wir fahren zur Oma immer mit dem ICE“, sagt der eine. „Der hat Türen, die schweben zur Seite, wenn man auf einen Knopf drückt.“ – „Weisst du, wo es den schnellsten Zug der Welt gibt?“, kontert der andere. Sein Freund muss passen, die Erzieherin auch. „In Japan“, sagt der Knirps. Dann geht er auf die Suche nach Spielzeug.

„Kann eine Dampflok aus Tonpapier Kinder wirklich anregen?“, fragt Marion Musiol, die die Begebenheit aus einer Kindertagesstätte gerade geschildert hat. Die Erzieherinnen in Publikum grinsen, zum Teil allerdings etwas gequält. Auch bei ihnen in der Kita hängen so niedliche Dinge wie Dampfloks aus Tonpapier und Watte. Kinder aber, hat die Pädagogin Musiol, die im Auftrag der Bundesregierung den Bildungsauftrag von Kitas erforscht hat, gerade ausgeführt, brauchen nichts Niedliches. „Kinder brauchen Komplexität: in Material, Bildern und Räumen.“ Denn Kinder können nicht gebildet werden, sie bilden sich selbst. „Dazu muss ihre Wahrnehmung angeregt werden.“ Das gehe eher mit dem ICE.

Musiols Auftritt ist für ein Teil der 150 Kitaleiterinnen und Erzieherinnen, die in den vergangenen zwei Tagen zur Fachtagung des Landesverbandes Evangelischer Tageseinrichtungen für Kinder zusammengekommen sind, eine Provokation. Diskutiert werden soll die Frage „Lernt das Kind genug im Kindergarten?“ – eine Frage, die seit der Veröffentlichung der Schülerleistungsstudie Pisa auch in der Politik ein heißes Thema ist. Von den Antworten der Politik, Kinder früher einzuschulen oder Unterrichtselemente in die Kita zu verlagern, hält hier niemand etwas. Man müsse Bildung endlich anders begreifen, heißt es.

„Kinder bilden sich nicht für etwas, was sie irgendwann in ihrem Leben tun werden“, betonte Christa Preissing von der Internationalen Akademie der Freien Universität. „Sie bilden sich, weil sie Einfluss nehmen und etwas verändern wollen.“ Dazu brauchten sie Unterstützung und das Gefühl, dass ihr Tun Einfluss auf ihre Umwelt hat. „Dieses Selbstbild macht einen großen Teil der Motivation von Kindern aus“, so Preissing, „und es kann sie auch blockieren.“

Das meint auch Musiol. Wenn Kinder Autogaragen bauen, müsse es nicht ums Bauen gehen. „In dem Beispiel, das ich im Kopf habe, ging es darum, eine ungerade Anzahl von Autos zwischen zwei Kindern zu verteilen“, sagt sie. „Es ging also um Gerechtigkeit, um eine moralische Kategorie.“ Eine Frage wie „Was habt ihr da denn Schönes gebaut?“ könne den Bildungsprozess „irritieren, vielleicht sogar vernichten“. Die Erzieherin müsse aber den Kindern Ansporn zum Weitermachen geben. Besonders geeignet dazu seien Alltagssituationen. Statt zum Beispiel im Herbst einen Korb mit Blättern, Kastanien und Moos in die Kita zu holen, sei die Natur selbst der anregendere Weg.

„Und dann kommt die Montessori-Frau und sagt, wir sollen den Korb dahin stellen“, murrt es im Publikum. Einige der Erzieherinnen finden Mousils Ausführungen „sehr simpel“, „ein Stück Standard“. Andere fühlen sich von den Eltern bedrängt, die sich sorgen, ob ihr Kind auf die Schule ausreichend vorbereitet ist. „Die wollen ihre Kinder doch am liebsten mit vier in die Vorschule schicken“, sagt eine Erzieherin. Das habe sich seit Pisa noch verstärkt. Eine andere stöhnt: „Wie soll ich das mit 16 Kindern machen?“ In der Kleingruppendiskussion aber räumt eine Kitaleiterin ein, dass der Inhalt der Kinderaktionen den Erzieherinnen wirklich nicht immer klar sei. „Aber dazu muss man eben auch den Raum haben.“