Die Illusion des Aufstiegs vergeht nicht

Die IG Metall will die Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten aufheben. Die gefühlte Differenz wird die Tarifordnung jedoch überdauern

BERLIN taz ■ Angestellte und Arbeiter beiderlei Geschlechts sollen also nach dem Willen der IG Metall künftig tarifvertraglich wie eine Gruppe von Lohnabhängigen behandelt werden. Tatsächlich erscheint diese Forderung als logische Folge einer nun schon jahrzehntelangen Angleichung beider Gruppen auf gesetzlicher Ebene.

Wo man auch hinsieht, die rechtlichen Abgrenzungen sind gefallen oder geschrumpft, vom Betriebsverfassungsgesetz über den Kündigungsschutz bis hin zum Versicherungsrecht. Auch den in jüngeren empirischen Studien befragten Angestellten erscheinen solche Ungleichbehandlungen als überholt. Die Zeiten sind ade, als Angestellte als verlängerter Arm der Unternehmer galten, als sie „Privatbeamte“ hießen, sich in ihrem Lebensstil und ihren politischen Ansichten nach „oben“ orientierten, selbst als sich in der Weimarer Republik eine immer größere Kluft auftat zwischen Selbstbild, erträumtem Status und den realen Verhältnissen.

Wer aber sind eigentlich „Angestellte“? Verbindet sie ein Band, das sich gesellschaftlich ausmachen ließe? Die Unterschiede zwischen den Branchen, den Tätigkeiten, den Qualifikationen sind zu groß, um objektiv Gemeinsamkeiten wie Unterschiede zu den ArbeiterInnen festmachen zu können. Ist die angestellte Sekretärin, die zum Diktat beim Chef erscheint, selbstständiger in der Gestaltung ihrer Tätigkeit als der hoch qualifizierte Facharbeiter im Maschinenbau?

Die IG Metall Baden-Württemberg stellt fest, dass die Lohndifferenz zwischen einem Facharbeiter und einem Angestellten, der die gleiche Tätigkeit ausübt, bei bis zu 500 DM im Monat liegt. Haben solche Lohndifferenzen Rückwirkungen auf das Verhältnis von ArbeiterInnen und Angestellten, gibt es überhaupt ernsthafte Hindernisse für die tarifvertragliche Fusion beider Gruppen?

Tatsache bleibt, dass der Organisationsgrad im Bereich der IG Metall rund 50 Prozent der ArbeiterInnen, aber nur 20 Prozent der Angestellten ausmacht. Günstiger sind die Zahlen in den traditionellen Hochburgen der Gewerkschaften, etwa in der Automobilindustrie, ungünstiger im gesamten Informationstechnologie-Bereich, wo Angestellte vier Fünftel der Belegschaft ausmachen und wo, selbst in Großbetrieben wie IBM, die Gewerkschaften auf schwachen Füßen stehen.

Generell lässt sich für die in Industrieunternehmen tätigen Angestellten (minus „Leitende“ ) sagen, dass ein angestelltenspezifisches Statusdenken im Schwinden begriffen und die Haltung den Gewerkschaften gegenüber eher positiv ist, wenngleich es oft als selbstverständlich genommen wird, dass nicht organisierte Angestellte in den Genuss von Verbesserungen kommen, die die Gewerkschafter für sie erkämpften.

Trotz vieler Angleichungen in rechtlicher wie tatsächlicher Hinsicht kann dennoch eindeutig zumindest im Industriesektor von Unterschieden zwischen Angestellten- und ArbeiterInnen-Bewusstsein gesprochen werden. Untersuchungen dazu hat es in den 90er-Jahren reichlich gegeben, vor allem die von Theodor Wentzke, „Leistungsprinzip und Sachzwang“. Sie mündet in der These, dass die Angestellten von der Idee eines Leistungsprinzips ausgehen, dem zu folgen sich auch auszahlt. Für sie ist der Aufstieg in der Angestelltenhierarchie, sind Prämien und Besserstellungen immer noch Ausdruck einer objektiv feststellbaren Leistung – ihrer Leistung. In den Gewerkschaften sehen sie eine notwendiges Korrektivinstrument. Aber im Gegensatz zu den ArbeiterInnen ist der betriebliche Konflikt für sie nicht determiniert von klaren Interessengegensätzen. Sie suchen nach einer Resultante, die das Wohlergehen des Betriebs auf lange Sicht ins Auge fasst, sie akzeptieren Sachzwänge. Subjektiv besteht also ein Gegensatz zwischen ihnen und den ArbeiterInnen, die, auch wenn ihnen jeder klassenkämpferische Gedanke fern liegt, vom Prinzip der Konfrontation mit den Unternehmern ausgehen.

Empirische Studien legen es nahe, von einer langen Wirksamkeit solcher Selbstbilder auszugehen. Dem wird die IG Metall Rechnung tragen müssen. Denn immer noch scheint nicht ganz überholt, was Siegfried Kracauer in seiner Arbeit von 1929 unter dem Begriff „Aufstiegsillusionen“ als Erster zusammengefasst hat. CHRISTIAN SEMLER