Der Schrecken wird verschleiert

Der jüngste Anschlag in Jerusalem wurde von einer Studentin verübt – mit weitreichenden Konsequenzen für den Alltag von Israelis und Palästinensern

Verschleierte Frauen gehören in Jerusalem zum Stadtbild – bisher verdächtigte sie niemand

aus Jerusalem SUSANNE KNAUL

Auf der Liste der bisher 120 palästinensischen Selbstmordattentäter steht seit Sonntag früh erstmals auch der Name einer Frau: Schanas al-Amouri hieß die 20-jährige Studentin aus Nablus, die laut israelischen Informationen „sehr religiös“ gewesen sein soll. Die Al-Najah-Universität bestreitet, dass eine Studentin unter diesem Namen in Nablus immatrikuliert ist. Dass eine Frau den Märtyrertod wählt, war überraschend, auch wenn israelische Geheimdienste davor gewarnt hatten. Denn zum einen vermieden die islamistischen Organisationen bislang die Rekrutierung von Frauen. Zum anderen ist die Perspektive eines Paradieses, das die Männer mit siebzig Jungfrauen lockt, für weibliche Märtyrer deutlich weniger attraktiv.

Egal ob der Tod von Schanas al-Amouri ein Einzelfall bleibt oder auf eine neue Dimension des Kampfes gegen die israelische Besatzung deutet – auf israelischer Seite wird bereits über neue Sicherheitsmaßnahmen nachgedacht. Dabei geht es vor allem um den Einsatz weiblicher Soldaten in Jerusalem, um verdächtige Araberinnen kontrollieren zu können. Dass nun auch Frauen potenziell verdächtig sind, vergrößert das Gefühl der Unsicherheit im israelischen Alltag.

Auch die Folgen für die Palästinenserinnen, die bislang relativ unbehelligt die unsichtbare Grenze von Ost- nach Westjerusalem überschreiten konnten, sind abzusehen: Ohne Einreisegenehmigung laufen sie künftig Gefahr, ertappt zu werden und, im günstigsten Fall, ein Bußgeld zahlen zu müssen. Möglich ist auch die Verhaftung für ein oder mehrere Tage. Theoretisch war das auch bislang denkbar. Doch in der Praxis sah es anders aus.

Denn die verschleierten Frauen gehören zum Stadtbild Jerusalems. Niemand verdächtigte sie bisher, eine Gewalttat zu planen. In den Läden der Jaffastraße, die für günstige Preise bekannt ist, wurde zwischen der jüdischen und der muslimischen Kundschaft nicht unterschieden. In Zukunft müssen selbst Palästinenserinnen mit Einreisegenehmigung oder gar Jerusalemer Identitätskarte mit Diskriminierung rechnen.

Schanas al-Amouri ist nicht die erste palästinensische Terroristin. Ihre wohl berühmteste Vorgängerin ist Laila Khaled, die in den Siebzigerjahren an einer Flugzeugentführung beteiligt war. Weniger bekannt sind jene Palästinenserinnen, die in der Vergangenheit, meist nur mit Küchenmessern bewaffnet, israelische Zivilisten oder Sicherheitsleute in Jerusalem attackierten. Auch in den Zwanzigerjahren nahmen Palästinenserinnen an Attacken auf britische Einrichtungen Teil. Laut Informationen der israelischen Polizei waren Frauen auch wiederholt an der Planung von schweren Terrorakten beteiligt.

Das von einer Frau begangene Selbstmordattentat widerlegt jene, die glaubten, wichtigste Motivation für eine solche Tat sei allein die Hoffnung auf das bessere Leben im Jenseits. Die islamistischen Organisationen Hamas und Islamischer Dschihad hatten das bisher verständlicherweise stets abgestritten. Abd al-Asis Rantisi, politischer Führer der Hamas im Gazastreifen, behauptet, dass altruistische Motive ausschlaggebend für Selbstmordattentäter seien. „Die Märtyrer opfern sich für ihr Volk“, sagt er. „Sie tun es, genau wie Jesus sich einst für die Christen opferte.“ Die Männer, die für ihren Einsatz ausgesucht und rekrutiert werden, sind streng religiös, politisch hoch motiviert und zwischen 18 und 30 Jahren alt. „Frauen“, so sagt Rantisi, „sind vom Dschihad (heiligen Krieg) ausgenommen“.

Während die meisten muslimischen Männer schon von Kindheit an den Koran und die Überlieferungen des Propheten Mohammed studieren, eröffnet sich Frauen der Weg zur Auseinandersetzung mit den islamischen Quellen oft erst später. Zum Beispiel an einer der islamischen Hochschulen Palästinas, wo das Koranstudium Teil der Ausbildung ist. Religionsstudien haben bei den Frauen einen anderen Stellenwert. Daher halten sie sich üblicherweise nicht in den Kreisen auf, aus denen die Selbstmordattentäter in der Regel rekrutiert werden. Möglicherweise haben die islamistischen Organisationen ihre Rekrutierungstaktik nun auch auf Frauen ausgedehnt.

Insgesamt 6 der bisher 120 palästinensischen Selbstmordattentäter haben, wie angeblich auch Schanas al-Amouri, an der Al-Najah-Universität in Nablus studiert. Nablus, eine der wenigen Städte Palästinas, in der fast keine Christen leben, gilt als traditionell islamisch geprägt. Aber auch Studenten anderer Universitäten, etwa der islamischen Hochschule von Gaza oder der als liberal bekannten Universität Bir Zeit haben sich zu Selbstmordattentätern ausbilden lassen. Hamas und Islamischer Dschihad sind an allen palästinensischen Unis vertreten.

Der Märtyrertod bedeutet eine unmittelbare soziale Aufwertung der Hinterbliebenen. Allerdings betrachten die Palästinenser nicht nur Selbstmordattentäter, sondern auch durch israelische Soldaten getötete Zivilisten als Märtyrer. Die Hinterbliebenen erhalten Ehrenbesuche und werden finanziell abgesichert (siehe Kasten). Die Familien von Selbstmordattentätern genießen besonderes Ansehen.

Der Freitod aus politischen Gründen gilt als ein Freifahrtschein ins Paradies. Auch ohne die siebzig Jungfrauen, die dort auf männliche Selbstmordattentäter warten – es gibt keine siebzig Männer für weibliche Märtyrer – ist das offensichtlich ein Argument, das auch auf fromme muslimische Frauen Wirkung hat. Den islamischen Quellen zufolge erlässt Gott den Märtyrern alle Sünden. Sie gelangen augenblicklich ins Paradies. Von wasserreichen Flüssen und goldenen Tellern ist in den Überlieferungen die Rede. Der Koran selbst gibt wenig Auskunft darüber, sondern beschränkt sich auf Andeutungen. Nicht Hunger noch Durst sollen die Gläubigen leiden. Weder Krieg noch Neid oder Habsucht. Am Tage des Jüngsten Gerichts dürfen die als Märtyrer Gestorbenen außerdem für siebzig Verwandte und Bekannte Fürsprache einlegen.