piwik no script img

Tod einer Eigensinnigen

Den Literaturnobelpreis hat sie nicht mehr bekommen. Astrid Lindgren hätte ihn verdient wie kaum jemand

von JAN FEDDERSEN

Schon länger stand sie auf der Liste der Kandidaten, die man unbedingt vor ihrem Tod gewürdigt sehen wollte. Nicht dass sie eine Frau sei, wäre zu loben wichtig, vielmehr der Umstand, dass sie im Laufe von mehr als fünfzig Jahren einen Erzählkosmos geschaffen hat, der das Leben von Kindern weder verniedlicht noch heroisiert, sondern in seinen Eigenheiten schildert – märchenhaft und realistisch zugleich. Astrid Lindgren, antichambrierten viele ihrer Freunde, werde bald sterben. Obendrein wäre es eine noble Geste Schweden gegenüber, denn aus diesem Land stammt die Frau, deren HeldInnen Pippi, Annika, Kalle, Rasmus, Lisa und Bosse heißen.

Die Mitglieder jenes Gremiums, das Jahr für Jahr den Gewinner des Literaturnobelpreises bestimmt, ließen sich aber nicht erweichen. Der Brite V. S. Naipaul erhielt die Auszeichnung zugesprochen, und es ist nicht bekannt, ob die auf Hochkultur getrimmten Juroren eine wie die Lindgren überhaupt je in ihre engere Wahl zogen. Die Schwedin zählt nun zu jenen Schriftstellern, die nie diesen Preis erhalten haben werden, denn die (Kinder-)Buchautorin ist gestern kurz vor der Mittagszeit in einem Pflegeheim in Stockholm gestorben. Das teilte ihre Tochter Karin mit. Nach wochenlanger Quälerei mit einer Viruskrankheit, seit vielen Jahren faktisch erblindet und darüber hinaus zunehmend schwerhöriger, sei es für sie, 94-jährig, ein friedliches Lebensende gewesen. Was auch immer das heißen mag.

Erfolg ohne Hype

Lindgren hat es seit Beginn der 50er-Jahre – nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland – zu einer Beliebtheit unter lesenden Kindern gebracht, die sie gänzlich ohne den Hype errang, mit denen heutzutage Autorinnen wie Joanne K. Rowling global und multimedial vermarktet werden. Das erste Buch der Schwedin erschien in (West-)Deutschland Anfang der 50er – die Geschichte eines unkonventionellen Mädchens. Stark wie ein Pferd, frech wie sonst nix, aufmüpfig, und sehr eigen überhaupt. Pippi Langstrumpf, so Astrid Lindgren über ihre erste Heldin, habe sie sich als Gutenachtgeschichte für ihre kranke Tochter ausgedacht. Pippi, das war und ist schließlich die Paradefigur einer ganzen Reihe von Kindern, die nicht viel gemein haben – bis auf den Umstand, dass sie (und damit ihre „Erfinderin“) strikt darauf beharren, dass Kinder keine leblosen Festplatten sind, die durch elterliche Dressur erst zivilisiert werden müssen. Und ebendies hat jahrelang die Kanonisierung der Lindgren’schen Romane erschwert. Noch Anfang der 50er warnte ein Rezensent, dessen Urteile die Einkaufspolitik von Bibliotheken beeinflusste, „Pippi Langstrumpf“ fehle „jegliche einigermaßen mögliche Wirklichkeit; die „originelle Idee“ – ein Mädchen quasi vaterlos (ihr Erzeuger und Behüter, ein furchtbar bärtiger und freundlicher Seemann, besucht sie nur sporadisch, dann aber besonders gerne) – wirke „abstoßend“.

Pippi und all die anderen hatten, alles in allem, so gar nichts vom deutschen Jungen, vom deutschen Mädchen, von Kraft durch Freude oder sonstigem völkischem Interieur. Lindgrens Personal konnte trotzdem reüssieren, denn nach dem Nationalsozialismus waren jene Tugenden zumindest nicht mehr stubenrein; die Bücher auszuleihen konnte Kindern nicht verboten werden.

Ironie der Geschichte: Anfang der 70er-Jahre, als die 68er Literatur und Pädagogik unter die Lupe nahmen, standen Lindgren und ihre Pippi abermals im Mittelpunkt eines üblen Verdachts: beispielsweise den Lehren der Rote-Rübe-Pädagogik („Das Kollektiv ist alles, das Individuum ihm untergeordnet“) zuwiderzulaufen.

Individualität ohne Reue

Solche Inquisitionen hatten, wie man sich denken konnte, keine besonderen Folgen und fielen auf deren Urheber zurück: Lindgrens Literatur war ohnehin stets ein Erfolg der Ohr-zu-Ohr-Propaganda – wie auch die „Pippi Langstrumpf“- und „Ferien auf Saltkrokan“-Filme immer ermutigende bis exzellente Quoten und Einspielergebnisse brachten. Lindgrens Welt, das war und ist eine Welt von Eigenbrötlern und von Kindern, die mit Eigenbröteleien so ihre Schwierigkeiten hatten und dennoch nicht abgestraft wurden: wie behutsam sich Pippi Langstrumpf ihrer Freunde Tommy und Annika annahm; wie selbstverständlich die nervige Stina in „Saltkrokan“ ausgehalten und eben nicht, wie man heute sagen würde, ausgegrenzt wurde. Anders gesagt: Lindgrens Geschichten forderten keinen Nonkonformismus als Stil, sondern als Möglichkeit – und dass er von allen anderen respektiert werden muss, wenn er niemand am eigenen Leben behindert.

Dass sie den Nobelpreis nicht erhalten würde, so Lindgren, sei ihr immer klar gewesen, denn sie habe viel zu lange darauf gehofft. Ohnedies schätze sie nur jene Auszeichnungen, die sie auf ihre Fensterbank stellen könne, sodass gute Luft einziehen könne. Der Literaturpreis hätte ihr nur eine Urkunde eingetragen – viel zu leicht, um frischen Wind hereinzulassen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen