13 Leichen in Englands Keller

„An diesem Tag haben wir die jungen Leute verloren, sie gingen weg und schlossen sich der IRA an“

aus Derry RALF SOTSCHECK

„Ich will bestätigt haben, dass mein Bruder und mein Vater keine Banditen oder Bombenleger waren“, sagt die 43-jährige Nordirin Linda Roddy. „Kaum jemand weiß genau, was am Blutsonntag passiert ist. Erst wenn das festgestellt ist, sind wir zufrieden.“ Roddys Bruder William Nash ist heute vor 30 Jahren von der britischen Armee erschossen worden, er war damals 19. Als sein Vater Alexander ihm zu Hilfe kommen wollte, wurde er angeschossen und schwer verletzt. 13 unbewaffnete Demonstranten starben an jenem „Bloody Sunday“ in Nordirlands zweitgrößter Stadt, die bei den Protestanten Londonderry und bei den Katholiken Derry heißt.

Kein Ereignis in der blutigen Geschichte des Konflikts hat so tiefe Spuren hinterlassen, noch 30 Jahre danach sind die Umstände heftig umstritten, die Aussagen der Augenzeugen und der britischen Armee sind diametral entgegengesetzt. Die britische Regierung hat 1998 eine neue Untersuchung unter Leitung von Lord Saville eröffnet.

Es ist das aufwändigste und teuerste Unterfangen in der britischen Rechtsgeschichte. Mit einem Ergebnis ist erst in zwei Jahren zu rechnen, die Kosten werden umgerechnet mindestens 160 Millionen Euro betragen. Der Tribunalanwalt Christopher Clarke sagte, Aufgabe der Untersuchung sei es, die Wahrheit herauszufinden, auch wenn sie noch so schmerzhaft oder unannehmbar für irgendeine Seite sei: „Die Wahrheit hat ein eigenes Leben, und wenn sie auch das erste Opfer bei Feindseligkeiten sein mag, so hat sie doch eine immense Kraft, sich wieder zu erholen.“

Den Anwälten für die Familien ging es zunächst darum, die ursprüngliche Untersuchung, die nach dem Blutsonntag in Windeseile stattfand, zu entkräften: Die Kommission unter Lord Widgery hatte damals nach nur zwölf Wochen einen 36-seitigen Bericht vorgelegt, der voll und ganz der Version der Soldaten folgte, die ja die Beschuldigten waren. Lord Widgerys Untersuchung hatte sich auf die wenigen Minuten beschränkt, in denen die Schüsse gefallen waren. Politische Erwägungen, die möglicherweise zu den Ereignissen geführt hatten, ließ Widgery nach Absprache mit dem damaligen Tory-Premierminister Edward Heath außer Acht.

In Creggan, einem katholischen Arbeiterviertel Derrys, hatten sich am 30. Januar 1972 mehr als 15.000 Menschen versammelt, um für Bügerrechte zu demonstrieren, die in Westeuropa als selbstverständlich galten: gleiches Wahlrecht für Katholiken und Protestanten, keine Diskriminierung bei der Vergabe von Jobs und Sozialwohnungen, keine Internierung ohne Anklage. Demonstrationen waren verboten, doch schon in den Wochen zuvor waren in der Krisenprovinz die Menschen auf die Straße gegangen, Derry sollte der Höhepunkt werden. Dort gab es beinahe täglich Straßenschlachten zwischen Jugendlichen und der britischen Armee. Die katholischen Viertel waren von den Bewohnern verbarrikadiert worden, Armee und Polizei wagten sich nach Creggan und in die Bogside nicht hinein. Die Demonstration sollte an jenem Tag am Platz vor der Guildhall, dem Rathaus, im Zentrum der Stadt mit einer Kundgebung enden, doch die Soldaten hatten die Straße gesperrt. Als die ersten Steine flogen, schwärmte das 1. Fallschirmjäger-Regiment aus, die Soldaten eröffneten das Feuer. Eine Stunde später lagen 13 Tote auf der Straße. John Johnston, der als erster von einer Kugel getroffen worden war, starb fünf Monate später. Die Soldaten sagten, sie seien von den Demonstranten beschossen und mit Nagelbomben angegriffen worden und hätten das Feuer lediglich erwidert. „Ich akzeptiere nicht, dass die Opfer unschuldige Zivilisten waren“, sagt der Kommandant der Fallschirmjäger, Oberst Derek Wilford, noch heute. „Denn wenn das der Fall wäre, würde das bedeuten, dass meine Soldaten im Unrecht waren, und das kann ich nicht glauben. Es war eine Kriegshandlung.“ Wilford bekam für seine Rolle am Bloody Sunday von der Armee einen Orden. Hunderte von Augenzeugen hatten anderes gesehen.

Jeder einzelne von ihnen bestätigte, dass kein Schuss gefallen war, als die Armee das Feuer eröffnete. Manche der Demonstranten hatten die Arme gehoben, um sich zu ergeben, als sie von den Kugeln getroffen wurden. „Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie der 17-jährige Jackie Duddy ermordet worden ist, und dieses Wort gebrauche ich bewusst“, sagt der frühere Bischof von Derry, Edward Daly. „Er hatte versucht, wegzulaufen.“ Andere haben gesehen, wie die Soldaten den Toten Nagelbomben und Waffen in die Taschen steckten. „An diesem Blutsonntag haben wir die jungen Leute verloren“, sagt Bischof Daly, „sie gingen weg und schlossen sich der IRA an.“

Einer der Fallschirmjäger, der als „Soldat 027“ identifiziert ist, sagte vor Savilles Kommission aus: „Es gab keine Rechtfertigung auch für nur einen einzigen Schuss.“ Einem seiner Kollegen „fehlten sämtliche Attribute, die man normalerweise mit einem menschlichen Wesen verbindet“. Ein verwundeter Demonstrant sei aus Nahdistanz erschossen worden, sagt 027. Die Fallschirmjäger, sein eigenes Regiment, bezeichnete er als „Rottweiler der britischen Armee“. Der Soldat sagte erst an einem geheimen Ort aus, als man ihm den Schutz vor seinen ehemaligen Kollegen anbot.

Der britische Premierminister Tony Blair hatte vor vier Jahren auf Druck der Dubliner Regierung, die 1997 ihren eigenen Bericht vorlegte und darin vom „absichtlichen Töten unbewaffneter Zivilisten“ sprach, Lord Saville mit einer neuen Untersuchung beauftragt. Seitdem hat das Untersuchungsteam 97 Prozent der Zeugen, die man befragen will, auf fünf Kontinenten ausfindig gemacht – insgesamt 2.100 Menschen. Nur bei den britischen Soldaten wurde man nicht so leicht fündig, 40 Prozent der Namen, die das Verteidigungsministerium genannt hatte, waren falsch. Die Soldaten erstritten im Herbst vergangenen Jahres das Recht, nicht in Derry aussagen zu müssen, weil das für sie lebensgefährlich sei – statt dessen kommt die Untersuchung nun zu ihnen nach England.

Das Tribunal selbst tagt in der Guildhall, dem Ziel der Demonstration vor 30 Jahren. Der Saal ist mit modernsten technischen Mitteln ausgestattet, auf einem Computerbildschirm ist Derry im Jahr 1972 virtuell nachgezeichnet, eine Videoverbindung überträgt das Verfahren ins Rialto-Theater mit Platz für 900 Zuschauer, und täglich wird die offizielle Internet-Website aktualisiert: www.bloody-sunday-inquiry.org.uk.

Das Verteidigungsministerium hat kurz nach Beginn der Untersuchung die Zerstörung von zwei Armeegewehren, die am Bloody Sunday zum Einsatz kamen, angeordnet, obwohl Lord Saville die Waffen ausdrücklich als Beweismittel angefordert hatte. Ein Computerfehler, entschuldigte sich das Ministerium, und zum ersten Mal verlor der Richter die Contenance. Selbst Seamus Close von der gemäßigten unionistischen Alliance Party tobte: „Entschuldigungen sind nutzlos. Wenn das Verteidigungsministerium nicht mal zwei Gewehre verteidigen kann, wie will es dann eine Nation verteidigen?“

Von den 29 Waffen, die Lord Widgery damals vorlagen, sind nur noch drei übrig, der Rest wurde zerstört oder verkauft. Sie spielen bei der Untersuchung eine wichtige Rolle, denn aus geheimen Armeepapieren geht hervor, dass die Soldaten am Blutsonntag mit besonderer Munition ausgerüstet werden sollten, mit der man genauer treffen konnte. Außerdem haben sie sich offenbar selbst aus der Asservatenkammer mit Dum-Dum-Geschossen versorgt. Die Geheimpapiere enthalten zudem Hinweise, dass der Blutsonntag geplant war.

In einem streng vertraulichen Memorandum an den Oberkommandanten der britischen Truppen in Nordirland, Harry Tuzo, schrieb General Robert Ford drei Wochen vor dem Bloody Sunday: „Um Recht und Ordnung wiederherzustellen, davon bin ich überzeugt, ist als Minimum an Gewalt das Schießen auf die Anführer notwendig.“ Ein Mordbefehl? Ford sagt: „Schießen und töten sind unterschiedliche Worte.“ Doch Fords Kollege General Michael Carver meint: „Wenn die Armee bei einem Aufruhr das Feuer eröffnen musste, dann schoss sie, um zu töten, und nicht, um zu verwunden.“

Ein Schießbefehl, darin sind sich die Experten einig, musste von der Londoner Regierung abgesegnet werden. Der damalige Unionistenchef Brian Faulkner, der einer Regionalregierung mit Beteiligung von Katholiken vorstand, wurde von seinem rechten Parteiflügel der Nachgiebigkeit gegenüber Katholiken beschuldigt. Fünf Monate vor dem Bloody Sunday hatte die Armee in einer Nacht-und-Nebel-Aktion 700 Katholiken ohne Haftbefehl und ohne Anklage festgenommen und interniert – keineswegs auf Wunsch der Sicherheitskräfte, wie sich herausstellte, sondern auf Anordnung der britischen Regierung, die Faulkner stützen wollte. Doch wegen der täglichen Straßenschlachten und der verbarrikadierten katholischen Viertel stand Faulkner in seiner Partei weiterhin auf der Kippe. Da schickte die Londoner Regierung ihre Fallschirmjäger.

Die Unionisten halten die neue Untersuchung für hinausgeworfenes Geld. Manche von ihnen versteigen sich zu der abenteuerlichen Behauptung, am Blutsonntag sei niemand umgekommen, die Leichen waren eingefroren und zu Propagandazwecken auf die Straßen von Derry gelegt worden. Linda Roddy will bis zum Schluss täglich an der Untersuchung teilnehmen. „Meine Familie hatte nie irgendetwas mit der IRA zu tun, mein Bruder und mein Vater waren im Grunde unpolitisch. Meine beiden anderen Brüder, Eddie und Paddy, waren damals Soldaten in der britischen Armee. Nach dem Bloody Sunday haben sie die Uniform an den Nagel gehängt.“