„Wir sollten ehrgeizige Ziele verfolgen“

Der scheidende stellvertretende UN-Sonderbotschafter Francesc Vendrell zur Perspekive des UN-Einsatzes

taz: Bisher ist nicht einmal die Hälfte der 4.500-köpfigen Friedenstruppe in Kabul stationiert, auf die man sich geeinigt hat. Warum schlagen Sie bereits jetzt vor, die Truppe auf 30.000 Soldaten und ihr Einsatzgebiet auf das ganze Land auszudehnen?

Francesc Vendrell: Ich drücke damit nur die Wünsche der allermeisten Afghanen aus – der Bevölkerung und der politischen Führer. Es wird unvermeidlich sein, eine größere Truppe in den größeren Städten zu stationieren und die Sicherheit auf den wichtigsten Landstraßen zu gewährleisten. Das ist wichtig, um die vereinbarte große Ratsversammlung (Loja Dschirga) durchzuführen, die Situation Afghanistans zu stabilisieren und den Menschen und ihren politischen Führern auf den verschiedenen Ebenen das nötige Vertrauen zu geben. Das soll kein ewiger Einsatz werden, sondern nur einer von mehreren Monaten. Dann kann die Anwesenheit internationaler Sicherheitstruppen allmählich reduziert werden, wenn eine neue nationale Armee und eine professionelle Polizei die Arbeit übernehmen.

Bisher konnte ja noch nicht einmal die auf der Bonner Afghanistan-Konferenz vereinbarte Demilitarisierung Kabuls gegenüber der Nordallianz durchgesetzt werden.

In Bonn gab es nur in der englischen Version die Formulierung, „alle militärischen Einheiten sollen aus Kabul abgezogen werden“. Inzwischen haben wir festgestellt, dass in der Version des Abkommens auf Dari die entsprechende Passage lautet: „Alle militärischen Einheiten sollen von den Straßen Kabuls abgezogen werden.“ Diese Differenz war uns nicht aufgefallen. Sie lässt natürlich viel Platz für Interpretationen. Man muss aber auch feststellen, dass die Vereinbarungen bisher weitgehend eingehalten wurden. Wenn sich das für die nächsten zweieinhalb Jahre auch sagen lässt, werde ich sehr glücklich sein.

Erwarten Sie, dass der UN-Sicherheitsrat das auf Kabul beschränkte Mandat der Truppe ohne Probleme erweitert?

Nur weil der Vorschlag logisch ist und die Afghanen dafür sind, bedeutet dies noch lange nicht, dass der UN-Sicherheitsrat schnell eine entsprechend Entscheidung trifft. Es gibt ja viele Probleme auf Seiten der Länder, die Truppen stellen. Sie verfügen zum Teil nur über wenige Soldaten oder sind schon stark woanders engagiert, wie zum Beispiel auf dem Balkan, ganz abgesehen von den hohen Kosten einer solchen Truppe. Wenn Europäer und Amerikaner aber wirklich ein neues Afghanistan wollen, dann werden sie mehr Truppen stellen müssen.

Allein im Kosovo sind rund 40.000 KFOR-Soldaten stationiert. Wie soll das viel größere Afghanistan mit nur 30.000 UN-Soldaten befriedet werden?

Zunächst sind 30.000 Mann besser als knapp 5.000. Es geht auch nicht um ihre Stationierung im ganzen Land, sondern in den großen Städten, und um die Fähigkeit, schnell innerhalb des Landes flexibel eingesetzt zu werden. Die Hauptaufgabe hier besteht in der Vertrauensbildung. Außerdem muss dafür gesorgt werden, dass die Warlords ihre Kämpfer in wachsendem Maß in die nationale Armee integrieren und dass immer mehr Bewaffnete demobilisiert werden.

Wie soll denn ein so berüchtigter Warlord wie Raschid Dostum unschädlich gemacht werden?

General Dostum hat wiederholt gesagt, dass er gern Soldaten der internationalen Friedenstruppe in seiner Hochburg Masar-i Scharif haben würde. Denn dort gibt es drei potenziell rivalisierende Gruppen: Hasaras, Tadschiken und Usbeken. Eine Friedenstruppe könnte die Lage dort stabilisieren, und man könnte Dostum dann davon überzeugen, dass er seine Truppen allmählich unter ein ziviles Zentralkommando stellt.

Ist das realistisch?

Dazu müssen wir ihn erst mal fragen und nicht von vornherein davon ausgehen, dass er nein sagt. Wir müssen mit Anreizen und Sanktionen arbeiten.

Hat die internationale Gemeinschaft gelernt, dass sie Afghanistan nicht wieder allein lassen darf wie in den 90er-Jahren?

Auch in nächster Zeit werden wichtige Geldgeber und Regierungen weiter an Afghanistan interessiert sein. Ich habe den Afghanen aber auch immer gesagt, dass es wichtig ist, dass sich im Land in nächster Zeit die Dinge richtig entwickeln. Sollte gleich zu Beginn etwas völlig schief laufen, demotiviert das die internationale Gemeinschaft.

War es nicht schon ein verheerender Fehler der internationalen Gemeinschaft, zuzulassen, dass die Nordallianz allein in Kabul einmarschiert ist?

Es wäre wesentlich vorteilhafter gewesen, wenn die Hauptstadt nicht in die Hand einer einzigen Gruppe gefallen wäre.

Sollte die UNO in Afghanistan eine größere Rolle spielen, vergleichbar etwa ihrem Mandat im Kosovo?

Im Kosovo, oder auch in Osttimor, haben wir für eine Übergangsperiode die Führung des Landes übernommen. Das ist in Afghanistan nicht möglich, schon weil es ein viel größeres Land ist. Trotzdem befürworte ich, dass wir als UNO klare Spuren hinterlassen. Dabei sollten wir ehrgeizige Ziele verfolgen. Afghanistan sollte nicht so werden wie der Durchschnitt der Nachbarländer, sondern besser. Da haben wir noch einiges zu tun. Interview: SVEN HANSEN