BLAUER BRIEF AUS BRÜSSEL: DEUTSCHER WAHLKAMPF HAT EUROPA ERREICHT
: Musterschüler sind eben immer gut

Aus der Schulzeit kennt das jeder: Wenn der Klassenstreber eine Arbeit verhauen hat, wird die vom Lehrer wohlwollend nach oben korrigiert, weil es sich um einen Ausrutscher handeln muss. Bringt ein schwacher Schüler exakt die gleiche Leistung, kriegt er dafür eine schlechtere Note, weil bei ihm nichts anderes zu erwarten war. So und noch schlimmer ging es gestern in Brüssel zu. Deutschland rückt zwar sehr nah an die äußerste Verschuldungsgrenze von 3 Prozent heran. Doch beim Musterschüler zeigt der EU-Kommissar und Sozialist Solbes Verständnis und schiebt alles auf die schwache Konjunktur. Allenfalls im Gesundheitswesen und „auf der Ebene bestimmter Bundesländer“ sei mehr Ausgabendisziplin möglich.

Spätestens bei dieser ausgewogenen Schuldverteilung zwischen Schröder und Stoiber wird auch dem naivsten EU-Technokraten klar: Der spanische Währungskommissar bewegt sich nicht im objektiv-kühlen Raum der Wirtschaftsdaten, sondern in der heißen Phase des deutschen Wahlkampfs. In einer Zeit, wo die Finanzierungslücke für dreißig Militärflugzeuge vor dem Bundesverfassungsgericht landet, kann ein Rüffel für den amtierenden deutschen Finanzminister die Wahl entscheiden.

Daran will Pedro Solbes, der Aznars Machtübernahme in Spanien einen Karriereknick verdankte, nicht schuld sein. Doch von den Brüsseler Kommissaren wird erwartet, weder den Interessen ihres Heimatlandes noch denen einer bestimmten Partei nahe zu stehen. Sonst kann die Botschaft, der Euro werde durch eine disziplinierte Währungspolitik gestützt, nicht überzeugen.

Ein blauer Brief aber, aus dem der schwache Musterschüler entnimmt, er habe nichts falsch gemacht und brauche folglich nichts zu ändern, hat genau den gegenteiligen Effekt: Er macht deutlich, dass den Brüsseler Währungshütern in Wahlzeiten der Mut fehlt, unangenehme Wahrheiten auszusprechen. Auf einen solchen blauen Brief sollte man verzichten, wenn man nicht die Glaubwürdigkeit der europäischen Währung verspielen will.

DANIELA WEINGÄRTNER