Kommt zusammen

Revolution Nummer 6 und Nummer 9: Das Kurzfilmfestival „Going Underground“ im „Berliner Fenster“ der U-Bahn

Revolutionäre Umbrüche werden stets im Untergrund vorbereitet. Zunächst gilt es, die Basis zu unterlaufen, und wenn erst der Sockel wackelt, kippt bald das ganze System. In diesem Sinne kommt dem heute anlaufenden, ersten U-Bahn-Festival „Going Underground“ eine doppelte Bedeutung zu: Man agiert im Untergrund, also in der U-Bahn, um somit dem Kurzfilm, der seit Jahren sein kümmerliches Dasein in der Kinowelt fristet, wieder einen Platz in der öffentlichen Wahrnehmung zu verschaffen.

Ein Freiheitskampf, für den sich Heinz Herrmanns und seine „interfilm“- Festivalcrew bereits seit über 20 Jahren unermüdlich ins Zeug legen. Und das nicht umsonst. Das Festival hat sich mittlerweile international etabliert, nur dem gemeinen Berliner ist „interfilm“ noch immer kaum ein Begriff. Um so mehr scheint es, als seien die lokalen Medien mit einer Festival-Berichterstattung pro Jahr schon überfordert. Vierzehn kurze Filme, davon jeweils zwei im Block, laufen ab heute auf den U-Bahn-Linien 6 bis 9 im Wettbewerb. Die Gewinner bestimmt allein das Fahrgastpublikum. Gezeigt werden Kurzstücke für die besonders Eiligen – Höchstlaufzeit 90 Sekunden, ein Quickie also, oder auch: ein kleiner Moment über das große Glück.

Ein Pärchen stolpert liebestrunken durch die voll besetzte U-Bahn: leidenschaftliche Küsse, tiefe Blicke, Streicheleinheiten. Die anderen Fahrgäste, zunächst völlig verstört von so viel Zärtlichkeit im öffentlichen Nahverkehr, lassen sich nach und nach anstecken, rücken zusammen, zwinkern einander zu, lächeln. „Fahrgemeinschaft“ von Angelika Perdelwitz erzählt von der Liebe in den Zeiten der Berührungsangst, ohne Worte, dafür mit viel, viel Gefühl.

Ganz ohne Ton laufen auch alle anderen Beiträge über die Doppelmonitore, selbst wenn sie ursprünglich zum Teil als Musik- oder Tonfilm konzipiert waren. Stumm, aber nicht sprachlos, erzählen die Filme zumeist kuriose, pointierte Geschichten, die dramaturgisch und technisch durchaus mit dem derzeitigen Kinoangebot konkurrieren können. Auffällig ist die Bandbreite der diversen Tricktechniken. Mit deren Hilfe kann der Kinderfilm „Das hungrige Brötchen“ von Jürgen Haas zeigen, wie eine gefräßige Plastilinschrippe einen kompletten Frühstückstisch samt Tischtuch verschlingt, während der italienische Beitrag „The Glubber“ per Computeranimation einen Monster zerquetschenden Kampf inszeniert. In Ansgar Ahlers „Covered With Chocolate“ zieht gar ein Haufen animierter Schaumküsse gegen Intoleranz und Rassismus ins Feld.

Das herrlich groteske kleine Kunststück „Look Out“ macht deutlich: Schwärzer noch als der britische kann mitunter der russische Humor geraten. Ein halbblindes Väterchen nervt sein Zeitung lesendes Gegenüber im Zugabteil und bedient sich der absurdesten Mittel und Wege, um an die begehrten Informationen zu gelangen. Vergeblich. Am Ende heißt es: Gebiss schlägt Auge. Ido Vaginsky und Angelika Perdelwitz haben ihre Filme dem Medium in seiner Umgebung angepasst, auch wenn ein ortsspezifisches U-Bahn-Thema bei „Going Underground“ nicht zwingend vorgegeben war.

Vielmehr hatten die Festivalmacher wohl darauf zu achten, dass alle Wettbewerbsbeiträge auch den kleinsten Cineasten erlaubt sein müssen: Nicht alles, was kurz ist, ist Kunst. Und längst nicht alles, was Kunst ist, ist auch kindertauglich. Seinen persönlichen Lieblingsquickie darf aber schließlich jeder Fahrgast wählen. Am einfachsten funktioniert das mit einem SMS-tauglichen Mobiltelefon. Allen anderen bleibt noch das Voting übers Internet. Die Zukunft des Kurzfilms scheint multimedial. Also keine Frage: Revolution.

PAMELA JAHN