Schönheit des Alltäglichen

Mit „As Serious As Your Life“ schrieb die Fotografin Val Wilmer einst eine Sozialgeschichte des Jazz, die längst als Klassiker gilt. Nach 25 Jahren liegt das Buch nun in deutscher Übersetzung vor

Für die Musik setzten viele ihre gesicherte Existenz aufs Spiel. Sie meinten es ernst

von MAXI SICKERT

Zerrissenheit, Verwirrung, Schmerz. Die Suche nach einer neuen Ausdrucksform in der schwarzen US-amerikanischen Musik der späten Sechzigerjahre. Agression, Wut und radikale Politisierung sind die Attribute der „New Music“, wie diese Musik damals genannt wurde. Oder, in Verneinung jeglicher Musikalität in diesem Zusammenhang: des „New Thing“.

Dagegen setzt Val Wilmer die Zärtlichkeit. In ihrem Buch „As Serious As Your Life“, das 1977 erstmals erschien, beschreibt sie die „imaginären Konzerte“ eines Cecil Taylor oder den „stummen Schrei“ von Albert Ayler. Die Texte der Musik- und Dokumentarjournalistin, Filmemacherin und Fotografin reflektieren dabei Beobachtungen, die auch auf ihren Fotos auffallen: Gesten, Blicke, ein Lächeln. Der Ausdruck der Gesichter beim Spielen, Reden, Zuhören, Anschauen oder Nachdenken setzt sich in den Körperbewegungen fort.

Es sind nicht die ästhetisierten Jazzfotos eines William Claxton, die den Musiker zum Klischee ikonisieren. Es ist die Schönheit des Alltäglichen, die von ihr abgebildet wird. So beugt sich auf dem Titelbild ihres 1977 erstmals erschienenen Buches „As Serious As Your Life“ der Bassist Jimmy Garrison zu seinem Sohn Matthew. An den Wänden hängen Bilder, in der Ecke steht ein kleiner Fernseher. Die Familie als Teil der Musik, die oft schwierige Rolle der Ehefrau und Partnerin, all das sind für Val Wilmer Elemente, die die Grundlage für das Verständnis der „New Music“ bilden und die einen großen Teil dazu beigetragen haben, dass diese Musik es überhaupt geschafft hat, gegen den Mainstream zu existieren.

Es ging nicht mehr um das einzelne Instrument, das Solo oder die einzelne Note, sondern um den kollektiven Sound, das Gesamtwerk. Lautstärke und tonale Verzerrungen galten als sinnliche Erfahrung. Die Musik sollte körperlich wahrgenommen werden, wobei die Zuhörer gefordert waren, ihre bis dahin sozialisierten Hörgewohnheiten aufzubrechen. Nur wenige waren dazu bereit.

Ablehnung und Unverständnis umgaben die Musiker wie eine Mauer, und so suchten sie nach neuen Wegen, um spielen zu können. Sie gründeten Kommunen, wie Sun Ra in Chicago und ab 1961 in New York. Ornette Coleman übte mitten in der Nacht allein in einem Baseballstadion in Fort Worth, Texas. Als er später nach New York ging, waren der Boden und die Möbel seiner Wohnung übersät mit Notenpapier. „Sogar das Klo“, erinnert sich der Bassist Charlie Haden. In Los Angeles versammelte der junge Trompeter Don Cherry Musiker, um gemeinsam die neu empfundene Spiritualität und das Herantasten an afrikanische und indische rituelle Musik auszudrücken. Nicht Musiktheorie und Virtuosität standen im Vordergrund, sondern Energie und Emotionalität. Später begannen einige eine Lehrtätigkeit an verschiedenen Universitäten, was unter den Musikern für Kontroversen sorgte. Auch das bildet Val Wilmer in ihrem Buch ab, das nach wie vor als Klassiker der sozialen Jazzhistoriografie gilt.

Ihre Herangehensweise bricht mit den üblichen musiktheoretischen Abhandlungen, da sie Kategorisierungen vermeidet und die Informationen wie zerrissene Teile verschiedener Bilder zu einer Collage zusammenschiebt. So schreibt selbst ihr deutscher Lektor in seinem Nachwort, sie sei „weder eine Theoretikerin des Jazz noch eine begnadete Stilistin“ und verwehrt sich damit selbst den Zugang zu diesem ganz anderen Ansatz, Musik zu kommunizieren.

Anders als in der deutschen Buchausgabe vermerkt, ist sie im Dezember 1941 in London geboren. Ihre Fotos hängen in den großen Museen von London, Paris, Stockholm und im Schomburg Center in Harlem, New York. Als sie 17 ist, erscheint ihr erster Artikel, 1970 ihr Buch „Jazz People“. Dann, sieben Jahre später, „As Serious As Your Life“. Grundlage ihrer Bücher sind die Gespräche mit Musikern, aus denen ihre Persönlichkeitsbilder entstehen. „As Serious As Your Life“ geht dabei noch weiter und beobachtet die wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Bedingungen, in denen die Musiker lebten. Dabei werden Biografien kurz angerissen, Situationen beschrieben und Meinungen vorgestellt. Der „Jazzrock“ der Siebziger jahre galt den Vertretern der „Neuen Musik“ als verpönter Kommerz und Miles Davis als Hassobjekt. Sie selbst wirft dem Kritikerestablishment, das schwarze Avantgarde nicht als Kunst anerkennen wollte, Rassismus vor.

Für das Buch hat sie über 80 Interviews geführt. Sie sprach mit John Coltrane, Eric Dolphy, Albert Ayler, Don Cherry, Ornette Coleman und unzähligen anderen. Dabei ist es ihr wichtig, auch die weniger bekannten Musiker zu befragen. Sie war bei Konzerten, in den Zimmern, Wohnungen, Aufnahmestudios und hinter der Bühne. Die hier entstandenen Freundschaften sind fühlbar in der Behutsamkeit, mit der sie sich dem Phänomen der „freien improvisierten Kunstmusik“ nähert, wie sie es nennt. Ihre persönlichen Erfahrungen beschreibt sie erst 1992 in ihrer Autobiografie „Mama Said There’d Be Days Like This: My Life in the Jazz World“.

Jetzt ist „As Serious As Your Life“ nach 25 Jahren in der deutschen Übersetzung erschienen. Im Interview zeigt sie sich enttäuscht über den neuen Titel, der ohne Rücksprache mit ihr über ihr Buch gewälzt wurde, wie ein Verkaufsstempel. Ihr Anliegen war damals zu zeigen, dass die freie improvisierte Musik kein Spiel war, kein Hobby oder Aufbegehren eines Heranwachsenden gegen überkommene Gesellschaftsstrukturen. Sie beschreibt Musiker, die ihre gesicherte Existenz aufgaben und ihre Familien verließen, um diese Musik zu spielen. Sie kamen nach New York, um Gleichgesinnte zu treffen, und schliefen wie Pharoah Sanders in U-Bahnen oder Treppenhäusern. Sie bekamen keine Auftrittsmöglichkeiten und kaum Publikum. Und doch fühlten sie die innere Notwendigkeit, diese Musik zu schaffen. Sie meinten es ernst.

Es klingt nicht einfach, in den Siebzigerjahren im rassistisch aufgeladenen Amerika als weiße Frau allein durch schwarze Elendsviertel zu laufen, mit Kassettenrecorder und Kamera. „Wer diese Frage stellt“, sagt sie, „weiß die Antwort doch schon.“ Sie habe jetzt nur noch wenig Kontakt zu den Musikern von damals, viele seien bereits tot. Nach dem Erscheinen des Buchs habe sie sich erstmal „weg bewegt von der Musik“, um hauptsächlich Fotos und Reportagen zu machen. Ihre Vorbilder waren die Fotos von Guy Le Querrec und Roy De Carava. Jetzt sei auch die Fotografie für sie ausgereizt.

Sie habe keine Lust mehr, die Ausrüstung mitten in der Nacht zu Konzerten zu schleppen, und ihre Knie täten ihr weh. Lieber geht sie früh ins Bett und nimmt sich Zeit für andere Dinge. So schreibt sie neben anderen Projekten für den „New Grove Dictionary of Jazz“ – vor allem über Frauen. Darauf ist sie stolz.

Zur Zeit arbeitet sie an einem Buch über die Entwicklung der schwarzen Musik in England. Mit Jazz, sagt sie, hat das eher wenig zu tun.

Val Wilmer: „Coltrane und die jungen Wilden. Die Entstehung des New Jazz“. Hannibal 2001, 336 Seiten, 25,90 €