Schmiermittel des Sports

Auch in Salt Lake City werden wieder Sportler des Dopings mit pharmazeutischen Mitteln überführt werden. Die Empörung über die Schummler wird wieder mächtig ausfallen – als ob der Sport nicht selbst die Überlistung der „Natur“ förderte. Klüger wäre es, sich des Zusammenhangs von Natur, Humanismus und gentechnologischem Leistungswahn zu vergewissern. Überlegungen zu einer unsauber geführten Debatte

von SEBASTIAN MOLL

Die Wogen der moralischen Entrüstung schlugen wieder einmal hoch. Die italienische Polizei, ermächtigt durch ein Gesetz zur Verhinderung des Sportbetrugs, hatte während der Italienrundfahrt die Zimmer der Radprofis durchsucht und bei einem großen Teil der Fahrer leistungssteigernde Mittel gefunden. Der Italiener Dario Frigo, zu diesem Zeitpunkt Zweiter der Tour, gestand, ausdauerfördende Pharmazeutika mitgeführt zu haben, die unmittelbar aus den Forschungslabors der Chemiekonzerne stammten und noch nicht auf dem Markt waren.

Nichts gelernt habe der Radsport, empörte sich die Presse angesichts dieser Enthüllungen. Die Maßnahmen zur Selbstreinigung des Sports, die dieser eingeleitet hatte, nachdem die französischen Drogenermittler die Tour de France 1998 lahmgelegt und um ein Haar zum Abbruch gezwungen hatten, seien kaum mehr als PR-Gepolter und Ablenkungsmanöver gewesen. Unterdessen hätten die medizinischen Abteilungen der Teams ihre Fahrer munter weiter pharmakologisch wettbewerbsfähig gemacht und sämtliche Fairnesscodes mit Füßen getreten. Als mafiose Gemeinschaft wurde der Radsport dargestellt, die Tour de France als „rollender Pharmakonzern“ tituliert. Was allerdings dieselben empörten Journalisten nicht davon abhielt, wenige Wochen später das Duell der beiden Favoriten Lance Armstrong und Jan Ullrich bei der Tour de France hymnisch zu besingen.

Zur gleichen Zeit rauschte eine andere Debatte durch den deutschen Blätterwald, die mit ähnlich moralischer Dringlichkeit und ebenso geringer moralischer Klarheit geführt wurde: die Diskussion um Präimplantationsdiagnostik und um therapeutisches Klonen. Auf den ersten Blick ein Feld, das mit Hochleistungssport wenig gemein hat. Die Verwandtschaft der Debatten tritt jedoch zutage, wenn man die Entwicklung der Dopingpraktiken in den letzten Jahren betrachtet. Die Verwendung des Hormons Epo durch Ausdauersportler, seit etwa zehn Jahren üblich, markierte eine neue Qualität der unerlaubten Leistungssteigerung: Das Medikament zur Therapie Nierenkranker wurde gentechnisch hergestellt.

Seit etwa drei Jahren ist ein neues Präparat aus den Laboren der Pharmaindustrie unter Sportlern in Mode, das ebenfalls mit Verfahren der Gentechnik produziert wird. Das im Labor rekonstruierte menschliche Wachstumshormon HGH wandelt Fett in Muskulatur um und wurde zur Behandlung von Zwergwuchs entwickelt. Das Auftauchen von HGH bei den Schwimmweltmeisterschaften 1998 und der Verdacht, dass das bis heute nicht nachweisbare Hormon bei den Olympischen Spielen von Sydney flächendeckend zum Einsatz kam, veranlasste einige prominente Sportwissenschaftler dazu, mit einem Horrorszenario an die Öffentlichkeit zu treten. In einem Dossier der Zeitschrift National Geographic zu den Spielen von Sydney erklärte Professor Horst Michna aus Köln: „Man kennt heute schon eine Menge Gene, die das Muskelwachstum steuern. Mit einigen davon wird man versuchen, Therapien gegen erblich bedingten Muskelschwund zu entwickeln. Genauso gut können natürlich auch gesunde Menschen sich damit gezielt Muskeln wachsen lassen.“ Die Überprüfung des Erbguts von Kindern auf besondere Anlagen oder gar gentechnische Eingriffe seien ebenso denkbar. Kurzum: Der geklonte Athlet ist möglich geworden.

Wie es scheint, ist der Sport (und die Sportwissenschaft) somit Avantgarde, was die Erschaffung des Menschen durch den Menschen anbetrifft, an vorderster Front bei der Verwirklichung szientistischer Allmachtsfantasien. Allein die öffentliche Diskussion um das Doping im Sport hinkt dieser sich abzeichnenden Entwicklung um Lichtjahre hinterher. In ihr wird ein Idealzustand eingefordert, eine Rückbesinnung auf so genannte ursprüngliche Werte des Sports – in der Hoffnung, der Sport möge sich von der „Krankheit“ des Dopings befreien.

Eine Kritik, die den „reinen“ Sport vom Doping befreien möchte, meint der Berliner Sportsoziologie Eugen König, verschleiere die Tatsache, dass Doping und moderner Leistungssport ursächlich zusammenhängen. Im Doping, glaubt König, komme der durchtechnologisierte Höher-schneller-weiter-Rekordsport zu sich selbst. Wer den Sport vom Doping reinigen wolle – wie etwa das Gros der Medien, das im selben Atemzug Rekorde feiert und Doping verteufelt –, wolle von diesen Zusammenhängen ablenken.

Die in der Dopingkritik mitgedachten „ursprünglichen Werte“ des Sports, die bei der Renaissance des antiken Olympismus zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert formuliert wurden, sind, so König, schon immer Propaganda gewesen, „ideologisches Schmiermittel im Dienst technologischer Bearbeitung des Körpers“. Als Beispiel für eine solche Verschleierung des Leistungswahns nennt König das Postulat der Chancengleichheit, das ja die Vorteilsnahme durch Doping verbiete. Rein formal sei diese und verdecke „die reale Ungleichheit, bedingt durch ungleiche Betreuungs- und Trainingsbedingungen“.

Gegen die sportwissenschaftlichen Supermächte, die zur körperlichen Leistungsproduktion hoch qualifizierte Trainer und Mediziner ausbilden und unterhalten, haben enthusiastische Einzelsportler, beispielsweise aus der Dritten Welt, noch nie eine Chance gehabt. Und auch innerhalb westlicher Länder bestimmen sozioökonomische Faktoren, wer Zugang zu einem hoch technisierten Leistungssportinstrumentarium hat und wer nicht. Doping, so König, ist nur ein Faktor in einem allumfassenden System von Ungleichheiten und globalen Differenzen.

Die Ideologie, die hinter dem Gleichheitspostulat steckt, ist indes die des Humanismus, unter dessen Signum der Sport stehen soll. Der Sieg soll nicht technisch generiert sein, siegen soll, wenn man so will, die Natur. Von allem Technischen, Künstlichen gereinigt, tritt auf der Kampfbahn das Unberührte im Athleten in Erscheinung. Der Sieg ist somit eine Art Geschenk Gottes oder wenigstens der Triumph des unverstellt Menschlichen.

Just an diesem Punkt würde es sich für die Sportkritiker lohnen, einen Seitenblick auf die Diskussion um die neuen Möglichkeiten der Gentechnologie zu wagen. Schon längst wurde hier erkannt, dass die neuen Techniken der Genlaboranten, die sich Krebsforscher und Radrennfahrer gleichermaßen zunutze machen wollen, ein Überdenken von Wertmustern und Denkweisen unumgänglich machen. Marc Jongen, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, schrieb anlässlich der Gründung des neuen Ethikrats der Bundesregierung in der Zeit: „Nicht weniger steht mit dem zur Rede stehenden Paradigmenwechsel seinem endgültigen Ende entgegen als der metaphysisch codierte, hochkulturelle Zyklus der Menschheitsgeschichte. Wie heute deutlich wird, bestand das Hauptcharakteristikum dieser Epoche darin, dass sich der Mensch in der Welt als Subjekt, das heißt als Unterworfener eines in sich vollendeten, im Doppelsinn des Wortes ‚perfekten‘ objektiven Seins, vorfand.“ Anders formuliert: Zweitausend Jahre wähnten wir uns als Gäste in einer fertigen Natur, die wir demütig zu verstehen suchten, und diese Demut war das Charakteristikum des Humanismus.

Die Demut des Humanismus ist indes faktisch hinfällig. Seit der Aufklärung hält der Mensch sich trotz anders lautender Bekundungen immer weniger zurück, schafft die als unvollkommen erlebte Schöpfung nach eigenen Maßgaben um; die gentechnische Menschenfabrikation ist nur Kulminationspunkt dieser Entwicklung. Das „Zeitalter des Selbstdesigns“ sei angebrochen, sagt der Philosoph Peter Sloterdijk. „Making, not finding“, sei künftig die Aufgabe des Philosophen, erklärte bereits vor zwanzig Jahren dessen amerikanischer Kollege Richard Rorty.

Natürlich ist die Proklamation des Endes des Humanismus noch immer provokant. Und natürlich führen Humanisten wie Jürgen Habermas erbitterte Rückzugsgefechte. Die Naivität, mit der in der Diskussion um das Doping im Sport humanistische Moral eingefordert wird, ist dieser Debatte jedoch längst verloren gegangen. Auch Habermas konzediert, dass der Verlust allgemein verbindlicher metaphysischer Weltbilder das moralische Urteilen, das etwa vielen Sportjournalisten so leicht fällt, ungemein verkompliziert habe.

In der Dopingdiskussion gibt es unterdessen nur wenige Stimmen der Mitte. Die Fronten scheinen klar: Hier die Moralisten, die sich auf das humanistische Wertgut berufen; dort die Nihilisten und Zyniker, die eine Freigabe fordern und denen das Sportspektakel alles ist. Die Positionen entsprechen in etwa den Extrempolen in der Klondebatte. Hier die kalifornische Extropianersekte um Marvin Minsky, die eine rückhaltlose Machtübernahme des Menschen über sich selbst propagiert; dort der weidwunde Humanismus, der sich aller Evidenz zum Trotz vehement gegen die Indienstnahme des Menschen als Mittel zu gleich welchem Zweck sträubt.

Naive Kritik und der Wahn der Sportmediziner und Trainer, mit allen zur Verfügung stehenden pharmazeutischen Mitteln die perfekte Leistungsmaschine zu erschaffen, sind indes zwei Aspekte der gleichen Ideologie. Das Humanum schützen zu wollen ist ebenso naiv wie die Hoffnung, es überwinden zu können. Weder das Verteufeln des Dopings noch die Feier immer neuer Rekorde scheint dem Sport dienlich.

Mit zäher Widerspenstigkeit gegen das Evidente wurde bei der diesjährigen Tour de France in der deutschen Presse nach allerlei taktischen und trainingsmethodischen Gründen gesucht, warum das Ungeheuerliche passiert war: Nationalheld Jan Ullrich hatte abermals gegen den Amerikaner Lance Armstrong verloren. Statt jedoch den nahe liegenden Grund zu akzeptieren, dass Ullrich schlichtweg schlechter war als Armstrong, wurden die abenteuerlichsten Erklärungen konstruiert, einzig mit dem Ziel, die Realität zu verleugnen. Dabei hätte im Anerkennen des „Versagens“ eine Chance gelegen. Denn erst im Scheitern tritt das zutage, was Moralisten mit ihrer empörten Kritik vergeblich aus dem Schutt des High-Tech-Sports zu bergen versuchen: das nämlich, was der technisierenden Vernunft widersteht – wie auch immer man es nennen mag.

Dieses Numinose, Kontingente wird indes nur sichtbar, wenn man das technologische Prinzip des Sports nicht verleugnet. Ein Lob des Scheiterns, des vergeblichen Triumphes anstelle der sich gegenseitig lähmenden Bemühungen, das Scheitern einerseits wegzudiskutieren und sich andererseits über das Überborden der Körpertechnologien im Sport zu ereifern, hätte dem Sport jedenfalls einen besseren Dienst erwiesen. Die Niederlage des Helden als Sieg des Sports zu feiern wäre indes ausgesprochen unpopulär.

SEBASTIAN MOLL, 37, hat Philosophie und Amerikanistik studiert. Er lebt als freier Sportjournalist – Schwerpunkt: Radsport – in München