berliner szenen
: Pudelhaar im Februar

Alles Lüge

Ist Warten eine soziale Tätigkeit? Erst stehe ich im Weg. Dann werde ich auf einem bordeauxfarbenen Minisofa im Herrenzimmer platziert, auf dem bereits ein ausladender junger Mann in Frauenzeitungen blättert. Was will der überhaupt hier, frage ich mich, der hat doch überhaupt keine Haare. Nach einer Stunde, in der ich Gelegenheit habe, das fahrbare Profi-Shampoo-Terminal neben mir zu lesen, wird mir ein Kaffee serviert. Wahrscheinlich ist das Wetter schuld, der Wind, der die Sehnsucht in den Herzen regt. In jedem Lufthauch ist ein junges Werden, das die Menschen in die Friseursalons hineintreibt, stürmisch und von großer Dringlichkeit. Gewiss ist allein dieser provisorische Vorfrühling für den Ansturm der Lang- und Halblanghaarigen verantwortlich, diese herausfordernde Ahnung einer neuen Saion, die sich weit in den Winter hineingestohlen hat. Wie Schneeglöckchen in kleinen Gruppen durch den harschen Boden stoßen, stoßen weitere Köpfe hinzu und haben, wie die Chefin hofft, Zeit mitgebracht. „Wie immer“, sagt ein grauhaariger Herr, und ich bin zunächst erleichtert. Doch dann muss ich erkennen, dass das Privileg des geringeren Preises, den Herren beim Friseur zu entrichten haben, auch nur ein Ausdruck unserer patriarchalischen Gesellschaft ist. „Wie immer“ kann doch nicht so lange dauern. Diese Vergünstigung steht in keinem Verhältnis zu einer vermeintlich geschlechtsspezifischen Fönarbeit. Alles Lüge! „Wie ein Pudel siehst du aus“, meint der hoch aufgeschossene Sohn, der seine Mutter abholt, woraufhin die verantwortlich Friseurin, die wirklich wie ein blonder Pudel aussieht, kontert, dass Pudel wunderhübsch seien, und ich weiß es jetzt sicher: Warten ist eine soziale Tätigkeit.MONIKA RINCK