Die Form fühlen

Für ihn war Herbie Hancock der letzte Neuerer des Jazzklavierspiels: Reggie Moore, der 1984 von New York nach Berlin gekommen ist, ist seit dreißig Jahren wieder im Studio gewesen. Heute tritt er mit seiner Frau im A-Trane auf

Die langen dunklen Finger bleiben selbst in der Bewegung gerade, die Fingerspitzen nach oben gebogen. Zum Himmel hin. Die Hände strahlen Ruhe aus im Danach. Nach dem Spiel, dem Nachgleiten einer Melodie, die im Kopf ein Bild zurücklässt. Pianistenhände, geformt aus unzähligen Berührungen. Reggie Moore sitzt an der Orgel. Langsam und kraftvoll breitet sich der Gospel über die Holzbänke der kleinen Kirche aus, dringt in die schmalen Ritzen der Dachbalken und streichelt die geschnitzte Statue des gekreuzigten Jesus. Selten spielt er Orgel. Als Kind in einer Baptistenkirche, später mit Ron Ringwood und den Gospelmessengers. Die Melodie von „Wade In The Water“ fächert sich in unzählige Improvisationen auf und wird zu reinem Rhythmus. Im Mai letzten Jahres ging Reggie Moore nach 30 Jahren wieder in ein Studio, um Material für eine CD aufzunehmen.

Es war kurz nach dem Tod von John Lewis, dem Begründer des MJQ, der Bach mit Jazz zusammenbrachte. Wie Moore selbst, der immer wieder Elemente europäischer Klassik in seine Improvisationen einbaut. Besonders Chopin, der mit emotionalen Klangfarben „Bilder auf die Seele“ malte. Auf der CD widmet Moore John Lewis seine Interpretation der Lewis-Komposition „Django“. Bisher ist das Album noch nicht erhältlich, nur die Aufnahmen von damals, von 1971, die Moore selbst nicht mehr hört. „Mein Spiel hat sich verändert seit damals.“ Reggie Moore spricht langsam und ruhig. Bei einem Lächeln kräuselt sich der silberne Bart über seiner Oberlippe. Für ihn war Herbie Hancock der letzte Neuerer des Jazzklavierspiels. Er selbst hatte nicht das Gefühl, etwas Neues zu sagen zu haben.

Moore kam 1984 aus New York nach Berlin. Im Jahr davor hatte er auf einer Tournee mit dem Musical „Bubbling Brown Sugar“ seine jetzige Frau kennen gelernt. Cornelia Moore, Sängerin und Komponistin. In ihrem gemeinsamen Haus in Lichterfelde-Süd geben sie Kurse und Workshops. Reggie Moore für Klavierschüler und Studenten, Cornelia Moore für Sänger und Schauspieler. Stimmbildung und Atemtechnik. Sie gießt Vanilletee aus einer altmodischen Kaffeekanne in kleine Tassen aus durchscheinendem Porzellan. Nur ihre tänzerisch ausladenden Handbewegungen erinnern daran, dass in diesem zierlichen Körper eine Stimme wohnt, die über vier Oktaven geht. An den Wänden hängen Fotos von Reggie Moore: als kleiner Junge am Klavier, auf einem Familienbild als Jugendlicher mit Malcolm-X-Brille, am Klavier heute. Die gleiche Kopfhaltung, der gleiche Blick. CDs stapeln sich auf der Anlage und neben den Lautsprechern. Immer wieder Miles Davis und sein Pianist, Bill Evans. Zwischen den Rahmen klemmt eine Postkarte mit Evans am Klavier, dem „Erfühler der Form“.

Darunter liegen Notenpapiere auf dem Holzflügel, doch meistens arbeitet Reggie Moore an dem kleinen Keyboard in seinem Arbeitszimmer. Moore liebt die strenge Logik elektronischer Geräte. Sein Studium zum Elektoingenieur machte er nicht zu Ende. Ein Engagement führte ihn damals auf die Virgin Islands, nach St. Thomas. 1963 war das, und Moore war 25 Jahre alt. Das Civil Rights Movement und die politischen Auseinandersetzungen der 60er-Jahre berührten ihn kaum, denn er hatte nie wirkliche Schwierigkeiten wegen seiner Hautfarbe. „Nicht mehr als hier“, sagt er mit einem leichten Anheben der Schultern.

Seine Auftritte mit Betty Carter oder Cab Calloway sind ihm nicht mehr wichtig, denn es war nicht seine Musik, die er damals spielte. Seine Musik ist die, die er gemeinsam mit seiner Frau und seinem Trio entwickelt hat. Mit dem Bassisten Earl Bostic und dem Schlagzeuger Michael Clifton. Sie bezieht den Zuhörer direkt mit ein. Stimmungen werden erzeugt, Freude und Leidenschaft, aber auch Trauer und Angst.

Er ist oft unterwegs, da die Auftrittsmöglichkeiten in Berlin begrenzt sind. Neben seinen Workshops schreibt er Musik für „Die Sendung mit der Maus“ und „Tatort“ und unterrichtet an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“. Reggie Moore hat seine eigene Musiktheorie entwickelt, die von dem mathematischen Gehalt in der Musik ausgeht. Danach definiert sich Musik nicht durch die Töne, sondern durch die Abstände zwischen den Tönen. Darin liegt für ihn der Schlüssel zum Verständnis jeglicher Musik. Eines Tages möchte der jetzt 63-jährige Moore darüber ein Buch schreiben.

MAXI SICKERT

Heute, 22 Uhr, im A-Trane, Pestalozzistr. 105, Charlottenburg