Beute machen im Fightclub

Unerzogene Körper schaufeln mit weiten Armen Welt in sich hinein, greifen, stopfen, verbeißen und verhakeln sich: Urs Dietrich zeigt seine Choreografien „Appetit“ und „Passionen.Passagen“ beim Tanz-Winter im Hebbel-Theater

Knabbern, knuspern, saugen, lutschen, schlingen, würgen: Bei Tisch, so hat uns die Domestizierung des Körpers über Jahrhunderte gelehrt, darf davon nicht allzu viel sichtbar werden.

In seinem Tanzstück „Appetit“ nimmt Urs Dietrich alle diese Bezeugungen von Lust und Gier in das Vokabular der Bewegung auf. Das ist schließlich nur konsequent für einen Choreografen, dem „das Leben als alleiniger Lehrmeister seiner Kunst“ gilt und der „die natürlichen organischen Gegebenheiten des menschlichen Körpers“ als Basis nimmt.

So formulierte es der Kritiker Klaus Witzeling 1999 in seiner Laudatio, als die Bremer Theaterfreunde dem Choreografen Dietrich einen Preis verliehen. Kurz darauf wurde Dietrich zum alleinigen Leiter des Bremer Tanztheaters. Für das Gastspiel in Berlin hat er „Appetit“ und „Passionen. Passagen“, beide aus dem letzten Jahr, in ein Doppelprogramm gepackt.

Der Intendantin des Hebbel-Theaters, Nele Hertling, wird vorgeworfen, zu oft die gleichen Künstler einzuladen. Diesmal aber hat sich solche Wiederbegegnung gelohnt.

Früher waren Dietrichs Stücke oft der Selbstreflexion des Künstlers auf der Bühne verfallen, so dass das Vergnügen etwas kurz kam. In den neuen Choreografien aber ist er so witzig, temperamentvoll und grausam, als wäre sein Konzept einen japanischen Manga-Zeichner in die Hände gefallen. Die Szenenfolge entwickelt einen großen Sog; Körper werden geschleudert, geknetet, gemangelt und gewalkt, wie es sonst nur Figuren im Comic überleben.

Unerzogen sind sie und ungebändigt. In „Appetit“ schaufeln sie mit weiten Armen Welt in sich hinein, greifen, stopfen, verbeißen und verhakeln sich. Männer werden durchgewalkt wie Blätterteig. Beim Essen verleibt man sich kleine Partikel von Welt ein, beim Tanzen wird der Raum weggeschlürft. Sie stopfen sich Tischtücher unters Hemd, bis sie schlapp alle Viere von sich strecken. Sie hocken unter dem Tisch und saugen an der Schmusedecke. Ein Mann mit Messer hakt sich blitzblanke Schneisen durch den Raum, ein anderer spuckt Bälle aus und lässt einen Pudding explodieren. Das Stück endet plötzlich, die Gier ist noch längst nicht gestillt.

Beute machen, bevor ein anderer sie bekommt: In „Appetit“ schlägt diese Aggression noch als komische Groteske durch, in „Passionen. Passagen“ wird die Gewalt brutaler. Nicht von ungefähr erinnern die Tänzer an Tiere, wenn sie – eine Wolldecke zwischen den Zähnen – die Köpfe schütteln und seitwärts schleudern. Das Bühnenbild deutet eine hohe Halle an, vielleicht ein aufgelassenes Industriegebiet, vielleicht eine runtergekommene Turnhalle.

In jeder Begegnung der acht Tänzer, die aus allen Richtungen auf der Bühne zusammenstoßen und wieder davonstieben, auch durch den Zuschauerraum, muss die Rangordnung zwischen ihnen neu hergestellt werden. Als soziale Metapher verstanden ist dies ein depressives Bild, ein Fightclub der Körper, die sich über keine anderen Funktionen mehr definieren können.

Aber das ist nur die eine Seite. In einem Duo der von koreanischen Tänzerin Sunju Kim und Heiko Büttner verhakeln sich die Füße in den Boxerstiefeln immer wieder hinter dem Nacken des anderen: An die gefürchtete Blutgrätsche erinnert das und ist zugleich von ungeheurer Intimität. Sie sind sich so nahe in all dem Gerangel, Körperpanzer werden wie Nussschalen geknackt.

Die Dynamik, die der Tanz entwickelt, entzieht ihn Kategorien der moralischen oder sozialen Ordnung. Etwas Verzweifeltes steckt darin, aber zugleich eine Intensität und Spannung, die dafür entschädigt.

KATRIN BETTINA MÜLLER