Gib alles!

Beim Profi-Casting in Dee!s Coach und Castingcenter, Belohnung: ein Künstlervertrag von Thomas Anders. Patrick aus Pirmasens, Danny aus Chemnitz, Ben aus Tirol und noch 197 andere Jungs treten an, bis die funky Hose aufgeht

Leuten, die sich Satzzeichen an ihren Namen hängen, sollte man eh misstrauisch gegenüber treten. Wer fragt schon gern nach „Therapy?“. Wer kann sich schon „Joop!“ leisten. Und wer kann bitte erklären, warum „Dee!“, der weiße schwarze (oder solariumsgebräunte?) No-Angels-Drillinspector sein albernes Ausrufezeichen sogar auf die Parkplatzschilder vor „Dee!’s Coach und Castingcenter“ in Mitte drucken lässt: „Dee!’s Parkplatz“.

Darauf ist an diesem Samstagnachmittag die Teenie-Hölle los: „Männer mit markanter Stimme und Rhythmus im Blut“, die dann von Dee! und der (nach Rob und Fab von Milli Vanilli) tragischsten Figur des 80er-Playback-Sounds und einzigem langhaarigen Ken-Lookalike Thomas Anders zu „Chartsstürmern von morgen“ ausgebildet werden sollen, mopsen sich zuhauf vor dem mit Dee!- Fotos geschmückten Fabrikgebäude. Profi-Casting, Belohnung: ein „Künstlervertrag von Thomas Anders“. Der hatte neulich schon zusammen mit Dee! die It-Girls irgendwo ganz unten in die Charts gehievt, ein belangloses Girlpop-Duo mit einer Halbwertzeit, zu kurz, um „Mist“ zu sagen.

Oben, im hellen Tanzatelier, riecht es nach Schweiß. Nicht Männerschweiß, wie man es sich in einem Profifußballmannschaftsumkleideraum fantasiert, sondern Jungsschweiß. Angstschweiß. Clearasil. Brisk-Haargel. Pipi. Windeln. Die Bewerber sind zwischen 16 und 26, gerade waren die Nummern 50 und 51 (von circa 200) dran, und jetzt muss Dee!s verschwitzter Helfershelfer erst einmal motivieren: „Heeeeeeey Baby!“ singt der Haufen wie eine Gotthilf-Fischer-Formation in Bravo-Verkleidung, „I wanna knoooooow won’t you be my girl!“

Zusammen klingt es noch niedlich. Aber dann, solo vor dem Tribunal Dee!, dem kleinen Anders, und der sphinx- und gönnerhaft lächelnden Artemis („Vocal-Coach“ der No Angels), da geht bei den meisten nichts mehr. Patrick aus Pirmasens singt mit einer Stimme, dünn wie einlagiges Klopapier. Beim Tanzen gibt er soviel, dass seine funky Kookai-Hose aufgeht und alle sehen, dass er einen weißen String-Tanga trägt. Uahh. Wird nicht zum Recall eingeladen, klar. Genau so wenig wie der mit dem US-Flaggen-Kopftuch (vermutlich zu mopsig), der lockige Münsteraner, der vorher vor den Kamerateams posierte (vermutlich zu selbstbewusst), oder der schwarze Supertänzer (vermutlich zu tuckig). Ben, ein kleiner, süßer, dunkelhaariger, extra aus Tirol hergeflogen, ist nach seiner entmutigend- schlechten Performance so fertig, dass er kaum weiß, wie alt er ist. Er überlegt in leisem Alpensingsang. „Ich werd in zwei Monaten 25, oder? Ich meine, 26, oder?“. Das ganze sei „einfach zu belastig“ gewesen, oder? Er hatte da vorne einen totalen Nervenzusammenbruch, oder? Dann geht’s eben zurück nach Tirol, im Hotel arbeiten. Vorher noch kurz zum Funkturm, oder?

Am nächsten Tag wiederkommen darf Eddy: sieht ganz nett aus, singt okay, tanzt bemüht, entschuldigt sich aber (Trick 17!) vor seiner Vorsingen dafür, dass er „vorhin die Audition gestört hat. Das war echt scheiße von mir.“ Das ist genau die Art von Devotion, Ehrgeiz und Formbarkeit, die so ein Teeniestar für Dee!s Fuchtel braucht. Detlef Dee! Soost, der 31-jährige Tanztrainer, von dem man nicht herauskriegt, woher er kommt (wahrscheinlich aus dem Nichts) ist ohnehin der heimliche Star. Eine mysteriöse Figur. Er triezt seine Jungs (und Mädels) wie einer, der selber hart arbeiten musste, einer, dem Phrasen wie „Showbusiness ist 10 Prozent Inspiration und 90 Prozent Transpiration“ oder „Gib alles“ herausseiern könnten. Zur Nummer 74 sagt er mit einem Grummeln hinter dem Mundwinkellächeln: „Ich versteh gar nicht, warum du einen Text dabei hast, du hast doch nicht erst gestern vom Casting erfahren?“ Bums. Austeilen kann er.

Draußen, im Aufenthaltsraum, lungern außer Wonderbra-Mädchen in Tops und Stretch-Schlaghosen (Freundinnen, Popstarsfans, Dee!-Fans) auch Eltern herum. Zum Beispiel die Mutti von Danny, 16. Sie ist um halb sieben aufgestanden, um mit ihrem Sohn und dessen Freundin aus Chemnitz herzufahren. „Normal spielt der Danny Keyboard und singt dazu so schön. Aber das Keyboard konnte er ja nicht mitbringen.“ Danny ist ein dünner, kleiner, blonder Pubertätshautbubi. Er wird nachher „Let it be“ vorträllern. Ob das der richtige Bodensatz für den neuen Posterboy in 10.000 Mädchenzimmern ist? Wo die anderen alle auf BroSis, R. Kelly oder N’Sync- Homies machen?

Mal sehen. Dannys Mutter ist eh erschrocken, dass das Casting am nächsten Tag weitergeht. „Dann müssen wir ja noch mal kommen!“ Eigentlich wünscht man ihnen, dass es nicht klappt. Aus mindestens tausend Gründen. JENNI ZYLKA