Für eine Nacht am Meer

Bei der Langen Nacht der Museen wird die Neue Nationalgalerie für zwölf Stunden zu Buenos Aires: mit dem Rhythmus eines Schriftenmeeres, Melancholie – und Tango

Überall wo es eng ist, ist man in Berlin gut aufgehoben: An Silvester unter den Linden, im Winterschlussverkauf am Grabbeltisch und bei der Langen Nacht der Museen im Gewühl. Hunderttausende bewegten sich Samstagnacht zu letzterer durch die Stadt. Viele sind in der Nationalgalerie gestrandet, die sich für Stunden Dank sparsamster Inszenierungen und mit etwas Fantasie in ein Buenos Aires am Meer verwandelte, auf dessen improvisierten Plazas Tango getanzt wurde.

Wo in der argentinischen Stadt der Atlantik für Ebbe und Flut sorgt, sind es in dem Mies- van-der-Rohe-Bau die beleuchteten Schriftbänder von Jenny Holzer, die ununterbrochen und mit bisweilen orkanartiger Geschwindigkeit über die ganze Decke des Gebäudes laufen. „Das Weltall ist da, wo man Wunder entdeckt“ und „Angst ist die eleganteste Waffe überhaupt“ sind zwei von mehreren hundert Behauptungen, gegen die der Verstand machtlos ist. Weil die verglasten Wände in der Dunkelheit zu Spiegeln werden, wird das Schriftmeer zum Fantasma. Es setzt sich im Himmel über Landwehrkanal und Potsdamer Platz fort. Die Spiegelungen reflektieren die Bewegungsrichtung der Schrift. So entsteht der Rhythmus des Meeres.

„Tango bei Mies“ heißt das Event. Mitten im Raum hängt ein Plakat mit dem Konterfei des Zigarre rauchenden Architekten, der wie Hitchcock aussieht. Dazu gibt es eine Bühne für die exzellenten Musiker, eine Leinwand, auf der gar nicht im Einklang mit der wirklichen Welt der Film „Tango“ läuft sowie eine Tanzfläche, die von der Menge eingekreist ist und auf der Stars der Szene große Liebende oder große Möchtegerns sind. Beim Zuschauen vermischt sich Sehnsucht mit Schwermut. Das Publikum ist gebannt.

Hinter und neben dem zentralen Schauplatz, mitten unter Passanten kreisen jene Tänzer, denen das Herz davon galoppiert, obwohl ihr Schritt hinterherhinkt. Die Einfachheit, mit dem an diesem Ort jeder Halbsatz zur Weisheit wird, hat sie erfasst. In den Gesprächen geht es um Tango, in Wirklichkeit aber um die Welt: „Du musst gehen können, um einen Schritt zu machen“, sagt einer. „Wer führt, bewegt sich“, kontert der Nächste. „Melancholie ist langsam“, bringt es eine Frau auf den Punkt. Den Auftritt des holländischen Sängers Cornelis, der anlässlich der Hochzeit des niederländischen Thronfolgers und der argentinischen Maxima auf der Hauptbühne die Synthese der beiden Kulturen versucht, indem er in Holzschuhen Tango tanzt, bemerken sie nicht.

„Viel war es“, sagt der Aufseher der Nationalgalerie am Ende überwältigt. Noch nie seien so viele Leute da gewesen. Und einer, der beim Weggehen gefragt wird, woran er bei Argentinien denke, antwortet lapidar mit „Non pagar la deuda“ – wir zahlen die Schulden nicht!

WALTRAUD SCHWAB