Vielfältige Ansichten

Muslimische Akademiker aus ganz Deutschland trafen sich auf der Jahrestagung der GSMG in Kassel

Einen einigermaßen unverfälschten Blick auf die Befindlichkeit der in Deutschland lebenden Muslime erlaubte die Jahrestagung der Gemeinschaft der muslimischen Sozial- und Geisteswissenschaftler (GSMG) am vorletzten Wochenende in Kassel. Die Vereinigung hat zwar nur knapp 40 Mitglieder, doch gekommen waren weit mehr. Fast jede islamische Institution in Deutschland hatte Vertreter entsandt, und die Teilnehmerliste las sich wie ein Who’s who der deutsch-muslimischen Community. Einhellig bekräftigen die islamischen Vertreter ihre „Ankunft in der deutschen Gesellschaft“. Und das, obwohl ausgerechnet Milli-Görüș-Chef Mehmet Erbakan als Ehrengast eingeladen worden war.

Das Schächturteil des Bundesverfassungsgerichts etwa wurde einhellig begrüßt als Ausdruck der ersehnten rechtlichen Gleichstellung mit anderen Religionsgemeinschaften. „Das Urteil wertet die Muslime und ihre religiösen Vertretungen erheblich auf“, erklärte der GMSG-Vorsitzende Norbert Müller. Jetzt kämen neue Anforderungen auf die islamischen Verbände zu.

Islamischer Religionsunterricht und die Erlaubnis, als muslimische Lehrerin ein Kopftuch im Unterricht zu tragen, sind die für die Community wichtigsten Rechte, die sie in der nächsten Zeit erstreiten wollen. In beiden Fällen stehen in diesem Jahr Gerichtsentscheidungen an. Zustimmung fand auch das Referat der Berliner Juristin Kirsten Wiese, die zu dem Ergebnis kam, dass Kopftücher in Schulen eigentlich nicht verboten werden können.

„Das islamische und das westliche Minderheitenkonzept“ lautete denn auch das Hauptthema der Tagung. „Uns geht es darum, unsere Mitbürger davon zu überzeugen, dass wir nichts verlangen, was wir in der Geschichte nicht selbst gegeben haben“, beschreibt der zum Islam konvertierte Exbotschafter Murad Hofmann die Herausforderung. Sein Referat über die religiöse Toleranz der Muslime gegenüber christlichen und jüdischen Minderheiten im Mittelalter fiel allerdings etwas euphemistisch aus. Wenn die Muslime in Deutschland die Mehrheit stellen würden, so Hofmanns These, hätten die Christen nichts zu befürchten. Gleich zwei muslimische Wissenschaftler widersprachen ihm. Der damalige Umgang mit Minderheiten sei „nicht kompatibel mit dem heutigen Verständnis von Menschenrechten“ und tauge deshalb nicht als Vorbild, sagte zum Beispiel der Bonner Wissenschaftler Bülent Ucar.

Wie schwer die zahlreichen islamischen Organisationen in Deutschland einzuschätzen sind, wurde auf der Tagung immer wieder deutlich. Ausgerechnet Amir Zaydan zum Beispiel, konservativ-orthodoxer Leiter des Islamologischen Instituts in Frankfurt, trug leidenschaftlich Argumente für das integrative Potenzial des islamischen Religionsunterrichts vor. „Wenn es deutschsprachige islamische Religionsbücher gäbe, dann könnte jeder Deutsche den Islam verstehen lernen“, so Zaydan. Auch den privaten islamistischen Koranschulen könne man so das Wasser abgraben.

Ahmad al-Khalifa, ein Funktionär des gemeinhin als islamistisch eingeschätzten Islamischen Zentrums in München, überraschte mit seinem Erfahrungsbericht über die Familien- und Eheberatung für Muslime. Er beschrieb, wie er mit seinem ehrenamtlich tätigen Team Musliminnen hilft, ihre Männer von patriarchalischen und diskriminierenden Denkweisen abzubringen. Oft müsse er dabei auch gegen islamistische Imame kämpfen. „Wir müssen mehr islamische Beratungsstellen gründen“, forderte al-Khalifa. Wie stark der Bedarf sei, zeigt allein die Situation in München. Dort waren im vergangenen Jahr 680 Beratungsstunden in Anspruch genommen worden.

Unverständlich bleibt indes auch für etliche der TeilnehmerInnen der Tagung, wieso ausgerechnet der Milli-Görüș-Vorsitzende Mehmet Erbakan als Redner eingeladen worden war. Vielleicht, weil sich die Veranstalter mit einem berühten Namen schmücken wollten? Erbakan jedenfalls konzentrierte sich auf Journalisten- und Verfassungsschützerschelte. Eine „neurotische Wahrnehmungsstörung“ bestehe in Deutschland gegenüber dem Islam, der man mit einer „Desensibiliserungstherapie“ begegnen müsse. Vielleicht war Erbakans Auftritt bei der GMSG ja Teil dieser Desensibilisierungstrategie im ihm kritisch gegenüberstehenden Milieu muslimischer Akademiker.

YASSIN MUSHARBASH