Gestritten wird hier nur selten

Globalisierung rückgängig machen oder einen globalen Gesellschaftsvertrag schließen. Zwei Konzepte – und das Versäumnis, darüber zu diskutieren

Die NGOs sind nicht mehr ganz so optimistisch wie nach den großen Demos gegen die G 8 in Genua

aus Porto Alegre GERHARD DILGER
und HANNES KOCH

Es gibt wieder ein historisches Subjekt gesellschaftlicher Veränderung. Beim Weltsozialforum in Porto Alegre wird sich die globalisierungskritische Bewegung mehr und mehr bewusst, wer sie ist und was sie will.

Woher sie kommt, ist mittlerweile klar: Landlose in Brasilien, indische Reisbauern, Bewohner der Slums von Johannisburg, Mexiko-Stadt oder Manila, Umweltschützer aus den Industrieländern – sie alle eint die Kritik an einem alles beherrschenden Markt, der eine demokratische Gestaltung der Lebensverhältnisse zunehmend erschwert. Dem philippinischen Soziologen und Star der Bewegung, Walden Bello, war es am Samstag bei einem Workshop zur „Politischen Vision“ vorbehalten, die gemeinsamen Werte der vielen tausend Gruppen zu umreißen: Nachhaltigkeit gehöre dazu, Basisdemokratie, Solidarität und Gleichheit.

Zugleich jedoch arbeitet man an konkreten Zielen. Die Forderung nach der Tobinsteuer, die internationale Finanzkrisen unterbinden soll, reicht nicht mehr aus. Oft wird die Frage gestellt, die Peter Wahl vom deutschen Think-Tank „Weed“ in Anlehnung an das Motto des Forums „Eine andere Welt ist möglich“ formulierte: „Wie sollte diese andere Welt denn konstruiert sein?“

Dabei ist das Weltsozialforum jetzt einen Schritt weiter gekommen. Verschuldete, von Krisen geschüttelte Staaten und ihre Einwohner will man nicht länger der Willkür der Kredithaie, den internationalen Banken, überlassen. Die Forderung nach einem gerechten Verfahren im Fall eines Staatsbankrotts ist ein Ergebnis der Konferenz von Porto Alegre. Gemünzt ist diese Intervention aktuell auf Argentinien. Das Land hat rund 150 Milliarden Dollar Schulden bei ausländischen Investoren, für die es keine Zinsen bezahlen kann.

Bisher setzten sich in solchen Fällen die Gläubiger im so genannten „Pariser Club“ zusammen und präsentierten dem Bankrotteur einen Zahlungsplan, der den Banken dient und der betroffenen Bevölkerung schadet. Das geforderte gerechte Insolvenzverfahren soll damit Schluss machen. Argentinien hätte dann das Recht, ein unabhängiges internationales Schiedsgericht anzurufen, das auch die Bevölkerung des Landes anhören muss.

Doch die Suche nach der großen politischen Vision bleibt schwierig. Ausdruck dessen ist die Weigerung der Organisatoren, zum Ende der Konferenz am Dienstag eine programmatische Erklärung zu präsentieren. Ob es trotzdem eine geben wird, ist noch nicht klar – die Bewegung Attac arbeitet daran.

Eine Ursache dafür ist, dass in vielen Workshops zwei Konzepte eine Rolle spielen, die sich nicht unbedingt ausschließen, aber doch andere Akzente setzen. Das eine ist das von Bello geforderte Projekt der Deglobalisierung. Der Vordenker der Organisation „Focus on the Global South“ will die großen Wegbereiter des Neoliberalismus wie den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank entmachten und die Globalisierung zum Teil rückgängig machen. Protagonisten von Attac plädieren dagegen eher für einen „globalen Gesellschaftsvertrag“, der Strukturen des alten Nationalstaats auf Weltebene wieder errichten soll. In diesem Sinne könnte dann eine reformierte UNO globale Steuereinnahmen verwalten und für Entwicklungspolitik verwenden.

Kontroverse Debatten über diese beiden Ansätze blieben in Porto Alegre bisher allerdings Mangelware, vor allem auf den insgesamt 26 Großkonferenzen. Den GlobalisierungskritikerInnen geht es vor allen um das gegenseitige Kennenlernen, den Informationsaustausch und nicht zuletzt um die Stärkung des Gemeinschaftsgefühls. Jeder akzeptiert die Sichtweise des anderen als Teil des großen Ganzen.

Die Opposition gegen den Internationalen Währungsfonds (IWF), die Weltbank und die Welthandelsorganisation (WTO), den als illegitim empfundenen internationalen Leit- und Kontrollinstanzen, zieht sich wie ein roter Faden durch die Veranstaltungen. Martin Khor vom malaysischen „Third World Network“ und die indische Ökofeministin Vandana Shiva schilderten plastisch, wie die EU-Kommission auf der WTO-Tagung in Katar im vergangenen November agierte. Die afrikanischen Staaten und Indien seien in letzter Minute „über den Tisch gezogen worden“. Tony Blair habe dem indischen Premierminister in einem Telefonat mit Repressalien gedroht, sagte Shiva. Die USA und Europa hätten die Lage nach dem 11. September genutzt, um ihre WTO-Agenda, durch die die Rechte der transnationalen Konzerne weiter ausgeweitet werden sollen, durchzudrücken.

Für Martin Khor ist die Forderung nach Sozial- und Umweltklauseln im internationalen Handel ein „Ablenkungsmanöver“, durch das die Industriestaaten wie auch die Europäische Union bei den Katar-Verhandlungen ihren Protektionismus rechtfertigen wollen. Letztlich sollten dadurch die Arbeiter in Nord und Süd gegeneinander ausgespielt werden. Nach demselben Prinzip funktionierten die Nordamerikanische Freihandelszone Nafta und das Freihandelsabkommen zwischen Mexiko und der EU, so Héctor de la Cueva von der latein- und nordamerikanischen „Kontinentalen Sozialallianz“. „Europa ist in diesen Fragen um keinen Deut besser als die USA“, so der Mexikaner.

Trotz dieser heftigen und selbstbewussten Kritik klingt während der fast 1.000 Seminare, Workshops und Podiumsdiskussionen öfters eine gewisse Unsicherheit durch. Die globalisierungskritischen Organisationen – zumindest ihre Protagonisten – sind gegenwärtig nicht mehr ganz so optimistisch wie noch nach den großen Demonstrationen von Genua im vergangenen Sommer. Nach dem 11. September gerieten die Basisorganisationen in die Defensive, weil sie sich gegen den Vorwurf einer vermeintlichen Nähe zum Terrorismus wehren mussten.

Auch die Ergebnisse der Konferenz von Katar wertete Walden Bello als Niederlage: Oft ist zu hören, dass es für den Erfolg der Bewegung notwendig ist, in der Öffentlichkeit ständig präsent zu sein. Aber das ist eben auch sehr schwierig. Und so scheint auch dies zur Identität des neuen gesellschaftlichen Subjektes zu gehören: die Unsicherheit über die Zukunft.