Im Dienst der Menschenrechte

Das Tribunal in Den Haag und der künftige internationale Strafgerichtshof können die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen erheblich beschleunigen

Der Prozess muss die „chain of command“, die bei Milošević endete, tatsächlich nachweisen

Am 12. Februar wird sich in Den Haag erstmals ein ehemaliges Staatsoberhaupt wegen schwerster Verbrechen während seiner Amtszeit vor einem internationalen Straftribunal verantworten müssen. Bei der Hauptverhandlung gegen Slobodan Milošević betreten die Haager Richter einen Rechtsboden, der zwar juristisch abgesichert ist, aber politisch schwankt. Vom Verlauf ebenso wie vom Ausgang dieses Prozesses wird es abhängen, ob das neue Prinzip individueller Verantwortung für Massenmord und Vertreibung auch für Politiker gilt, die sich bislang hinter ihrer Rolle als international agierende Staatsmänner, in Milošević’ Fall als Unterzeichner des Friedensabkommens von Dayton, verschanzt haben.

Es ist oft und zu Recht betont worden, dass die Spruchtätigkeit des Haager Tribunals dort fortfährt, wo die Nürnberger Prozessse endeten. Es galt und gilt die Schranken nationaler Souveränität zu durchbrechen zugunsten einer universalen Geltung der Menschenrechte. Im Unterschied zu den Nürnberger Prozessen wird in Den Haag jedoch auf der Grundlage von Recht geurteilt, das die angeklagten Politiker als für ihre Staaten verbindlich akzeptiert haben. Somit entfällt das Argument des Rückwirkungsverbots. Zudem entstand das Haager Gericht selbst nicht wie das Nürnberger kraft Beschlusses der Siegermächte, sondern durch einen satzungsgemäßen Beschluss des Weltsicherheitsrates der UNO, deren Mitglied Jugoslawien war und deren Charta es sich unterworfen hatte. An der Legalität des Gerichts kann deshalb nicht ernsthaft gezweifelt werden.

Wie aber steht es mit seiner Legitimität? Wer gegen Milošević verhandelt, muss auch gegen Putin verhandeln, denn auch im Tschetschenienkrieg wurden die Menschenrechte mit Füßen getreten. Oder gegen die Staatsmänner, die 1999 im Kosovo ein Bombardement zu verantworten hatten, das die Grenzen einer – völkerrechtlich zulässigen – Nothilfe zugunsten der Albaner weit überschritt. Dieser Vorwurf der Selektivität kann nur ausgeräumt werden, wenn eine künftige internationale Strafgerichtsbarkeit den Horizont verlässt, der bei menschenrechtlich motivierten Interventionen immer noch durch nationale Interessen bestimmt ist.

Nur: Begrenzen nationale Interessen oder die von Bündnissen nicht diese Interventionen? Und ist es, wie der Politikwissenschaftler Herfried Münkler meint, nicht an der Zeit, solche Interessen zu benennen, statt sie hinter einer Menschenrechtsrhetorik zu verstecken? Hinsichtlich der internationalen Strafgerichtsbarkeit haben vor allem die USA Bedenken. Sie betreiben gegenüber dem Haager Gericht seit einiger Zeit eine Obstruktionspolitik – zum Beispiel, was die Verhaftung der als Kriegsverbrecher gesuchten Karadzić und Mladić anlangt. Noch gravierender ist, wie sie den Zuständigkeitsbereich und die Rechtshoheit des zukünftigen Internationalen Strafgerichtshofs zu unterminieren trachten. Generell gilt, dass die Politik der USA gegenüber verbindlichen internationalen Regimen mit Zwangsgewalt darauf hinausläuft, ihre nationale Souveränität ungeschmälert zu erhalten. Man mag dafür in einem anders gearteten Verständnis von Verfassung und Volkssouveränität eine Erklärung finden. Tatsache aber ist, dass diese Politik einen Sonderstatus der USA und der jeweils von ihr verfolgten Interessen zementiert.

Bricht sich also die Idee der universellen Geltung der Menschenrechte und damit auch ihrer Verteidigung an der interessegeleiteten Realpolitik der Mächtigen? So zu argumentieren hieße, den politischen Prozess verkennnen, der mit den Jugoslawien- und Ruanda-Strafgerichten initiiert und mit der Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs fortgeführt wird. Je mehr sich die Spruchpraxis dieser Gerichte verfestigt, desto mehr wächst kraft der Rechtsstaatlichkeit der Verfahren ihre Autorität, je mehr ihre Haftbefehle international vollstreckt und ihre Urteile mit der Haft der Täter enden, desto mehr können sich auch die politischen Rahmenbedingungen ändern. Denn anders als die „Realisten“ meinen, spiegelt der Vormarsch eines menschenrechtlich inspirierten Völkerrechts nicht nur die Spinnereien von Weltverbesserern wider. Vielmehr zeigt der Bedeutungsverlust des einst allmächtigen staatlichen Souveränitätsprinzips, zeigt das Beharren auf Individual- und Gruppenrechten eine global wirksame gesellschaftliche Tendenz an. Auch die Politik der USA folgt keinem monolithischen Interessenblock, und die öffentliche Meinung dort wird sich in dem Maße differenzieren, in dem die internationale Strafgerichtsbarkeit – zunächst ohne Mithilfe der USA – nicht nur ihre Rechtsstaatlichkeit, sondern auch ihre Effizienz erweist. Natürlich wird, wo Großmächte wie die USA, Russland oder China involviert sind, die internationale Strafgerichtsbarkeit zunächst ihre Grenze finden. Aber sie ist deshalb nicht illegitim oder nutzlos.

Heute hat sich herumgesprochen, dass die meisten Morde und Massenverbrechen nicht mehr im Rahmen von herkömmlichen Kriegen geschehen, sondern dass sie die Folge von Bürgerkriegen sind. Das Haager Tribunal und das künftige römische Tribunal können die Wurzeln der heutigen Bürgerkriege nicht ausreißen. Sie können aber kraft ihrer Existenz als arbeitende Institution einen Friedensbeitrag leisten. Habermas hat die „Unterinstitutionalisierung“ des geltenden Völkerrechts beklagt. Das Haager Gericht, mehr noch der künftige internationale Strafgerichtshof können den Prozess der Verrechtlichung der internationalen Beziehungen beschleunigen. Verrechtlichung, wohlgemerkt, im Gegensatz zu einer beliebig wirkenden Menschenrechtsdemagogie, die stets anschwillt, wenn die eigenen Interessen es gebieten, und genauso zuverlässig verstummt, wenn sie den eigenen Interessen entgegenliefe.

Wer gegen Milošević verhandelt, muss auch Putin wegen des Tschetschenienkrieges anklagen

Damit der Prozess gegen Milošević positive Wirkungen entfalten kann, muss er strikten Anforderungen in der Beweiserhebung genügen, er muss also die chain of command, die bei Milošević endete, tatsächlich nachweisen. Gericht und Staatsanwaltschaft werden auch um die Erörterung im engen Sinn politischer Sachverhalte nicht herumkommen, werden – auch westliche – Politiker als Zeugen vernehmen müssen. Gerade wegen des Einvernehmens westlicher Staatsmänner mit Milošević wird es dabei bestimmt zu peinlichen Überraschungen kommen. Aber das Gericht muss diese politischen Sachverhalte aufklären, denn es verhandelt gegen einen Kriminellen, der auch der Führer seines Landes war.

Viel wird davon abhängen, ob es gelingt, die Mehrzahl der Serben, die dasVerfahren von Den Haag als politischen Prozess sehen, davon zu überzeugen, dass es um politisch motivierten vielfachen Mord geht. Und nicht um Siegerjustiz. Aber ein solcher Stimmungsumschwung dauert, und er kann nicht nur das Resultat eines Strafprozesses sein. Aber zur Institutionalisierung eines menschenrechtlich bestimmten Völkerrechts gäbe es sonst bloß eine Alternative: den Dschungel. CHRISTIAN SEMLER