Randale in Ramallah

An einem israelischen Kontrollposten kommt es im Verkehrschaos zu Streit und Mord. Das führt zu innerpalästinensischen Ausschreitungen in der Stadt im Westjordanland: Muslime gegen Christen

aus Ramallah PETER SCHÄFER

Jeden Abend stehen die Palästinenser Stoßstange an Stoßstange am israelischen Checkpoint Kalandia zwischen Jerusalem und Ramallah. Über zwei Stunden angespanntes Warten auf die Kontrolle. Jede Lücke wird genutzt, um sich vorzudrängen. Kleinere Blechschäden sind an der Tagesordnung.

Am Donnerstagabend streift Dschibril Eid mit seinem Auto das von Hanna Salame. Ein Streit bricht aus, der sich wie immer nicht gegen die bewaffneten israelischen Soldaten richtet, die für das Chaos verantwortlich sind, sondern gegen den Leidensgenossen. Salame zieht ein Messer, tötet Eid und verletzt dessen Bruder, beide aus dem Flüchtlingslager Kalandia, schwer.

Noch am gleichen Abend macht sich ein Mob von 200 Jugendlichen aus dem Lager nach Ramallah auf, bewaffnet mit Messern und Knüppeln. Dort brennen sie drei Metzgereien der Salame-Familie sowie deren Wohnhaus nieder. Die Löscharbeiten der Feuerwehr werden behindert, die palästinensische Polizei steht unbeteiligt daneben. Der Sturm auf das Gefängnis, in dem der mutmaßliche Täter mittlerweile einsitzt, wird von den Bewachern verhindert.

Bis hierhin ist das Ganze noch eine „normale“ Racheaktion. Akte der Selbstjustiz sind in Palästina nicht gänzlich unbekannt. Aber der Mörder ist Christ, der Ermordete war Muslim. Die Randale breitet sich aus. Die Menge fällt in den Kultur- und Sportverein Sirrije ein und legt Feuer. Die im Hof spielenden Kinder werden geschlagen. Sirrije wurde vor über 70 Jahren zwar von Christen gegründet, heute aber gemeinsam mit Muslimen betrieben.

Die Meute zieht weiter zu einer der Kirchen im Ort. Unterdessen sind aber Spezialkräfte der Polizei eingetroffen. Vertreter der politischen Organisationen mäßigen die aufgebrachten Menschen. Mitglieder der islamistischen Hamas stellen sich gemeinsam mit der Polizei schützend vor die Kirche.

Eine von Präsident Jassir Arafat eingesetzte Kommission untersucht nun den Vorfall. Er will für alle Schäden aufkommen. Aber kaum jemand möchte über die Vorfälle reden. Nur wenige Befragte sind bereit, ihren Namen zu nennen. Im Flüchtlingslager Kalandia stoßen Fragen auf eine Mauer des Schweigens.

Dabei leben Muslime und Christen in Ramallah friedlich zusammen. Ein anderes Beispiel für derartige Spannungen fällt niemandem ein. Aber gegenseitige Vorurteile könnten Bücher füllen. „Muslime sind ungebildet, arm, stehlen, haben drei Frauen, zwanzig Kinder und propagieren eine Religion des Schwertes“, meint ein älterer Mann. Womit er sich einen Klaps von seiner Frau verdient hat: „Es gibt überall gute und schlechte Menschen.“

„Christen denken, sie seien was Besseres, beteiligen sich nicht an der Intifada, kollaborieren mit den Israelis und missionieren“, zählt ein Muslim in der Altstadt Ramallahs auf. „Aber hier sind wir alle gleich, unter den Israelis leiden wir zusammen. Und die Zerstörer, diese Verrückten, sind schließlich nicht von hier.“

Rames Ansari (28) sieht soziale Ursachen der Unruhen. „Die Verhältnisse in Kalandia sind unerträglich. Ständige Auseinandersetzungen mit den israelischen Soldaten, keine Arbeit, zu wenig Schulen.“ Der evangelische Pfarrer aus Ramallah denkt, dass die Wut über den Mord von Einzelnen gezielt gegen die Christen geleitet wurde. „Die Jugendlichen selbst wussten doch gar nicht, gegen wen sie vorgehen“.

Einige Christen haben jetzt aber Angst. „Sie denken, sobald der Konflikt mit Israel zu Ende ist, werden die Muslime die Christen bekämpfen.“ Ansari hat deshalb wie alle seiner Kollegen die Angelegenheit zum Gegenstand seiner Sonntagspredigt gemacht. „Das ist kein Religionskrieg. Und wir sind in erster Linie Palästinenser, erst dann Christen.“

Etwa 50.000 Palästinenser bekennen sich zum Christentum. Die meisten von ihnen leben in Ost-Jerusalem, Bethlehem oder Ramallah. Israel verlangt die Angabe der Konfession in den palästinensischen Ausweisen. Christen sind so leicht von ihren muslimischen Landsleuten zu unterscheiden und werden von den israelischen Soldaten oft bevorzugt behandelt. Sie erhalten eher Zugang nach Jerusalem und werden bei Kontrollen weniger schikaniert.

Nach der Randale wurden christliche Vertreter bei Arafat vorstellig. „Wir haben ihm drei Vorschläge gemacht“, sagt Ansari. „Die Lehrpläne müssen beide Konfessionen berücksichtigen. Außerdem fordern wir in Ramallah einen Dialog der Konfessionen, den es in anderen Städten schon gibt. Zuletzt soll Rechtssicherheit durchgesetzt werden, damit die Leute das Gesetz nicht in ihre eigenen Hände nehmen.“ Der Präsident hat versprochen, alle Forderungen umzusetzen.