Die Olympiastadt der Sünde

Nicht das moralische Salt Lake City, sondern das vergnügungssüchtige Park City wird das Zentrum der Winterspiele sein. Die einstige Minenstadt mauserte sich seit 1980 zur Wintersportmetropole

aus Park City MARTIN HÄGELE

Seit gestern ist die Main Street von Park City drei Wochen lang für Autos geschlossen. Nur morgens zwischen eins und vier müssen die nicht mehr ganz so standfesten Zecher auf der olympischen Meile aufpassen, wenn die Bier- und Getränkelaster den Nachschub für die nächste Straßenfete herankarren. Hier gehen die Partys ab bei den 19. Winterspielen, und wenn es den viel zitierten olympischen Geist tatsächlich gibt, dann wird man ihn in seiner Außenstelle finden. 50 Kilometer weiter unten, in der Metropole Salt Lake City und rund um den Tempel der „Heiligen der letzten Tage“ begegnet man den weltlichen Lastern eher mit etwas Scham. Aber halt doch nicht so viel Scham, dass der Mormonenstaat dem fidelen Gezeche juristisch Einhalt gebietet. Die „Zion“-Bank nimmt ohne Bedenken das Geld aller Gäste, egal ob es nach Schnaps oder dem pünktlich zu den Spielen auf den Markt gebrachten „Polygamie-Porter“-Bier riecht, das die vom Religionsgründer Joseph Smith gepredigte Vielweiberei, die schon vor über hundert Jahren wieder verboten wurde, umsatzfördernd aufs Korn nimmt. „Why just have one?“

Die Fragen zur Moral ihrer Gesellschaft haben sich die Heiligen allerdings schon gestellt, als Park City noch vom Reichtum seiner Minen lebte. Damals war es ein ähnlicher Drang, der die fein gekleideten, zu keuschem Lebenswandel und dem Verzicht auf vorehelichen Geschlechtsverkehr erzogenen Mormonensöhne in die Stadt am Fuße der Silber-Berge lockte – in den Rotlichtdistrikt am Ende der Main Street. Weil ein Großteil der jungen Heiligen hier die Unschuld verlor, erfanden die alten Propheten den Namen „Sin City“, Stadt der Sünde.

Park City aber hat sich nie von den frommen Brüdern vereinnahmen oder nach den teils restriktiven Gesetzen des Mormonenstaats regieren lassen. Selbst als es anfangs der Siebzigerjahre dem Bergbau immer dreckiger ging und ein paar ganz Mutige für die Zukunft der Kommune auf den Skisport setzten, war hier nichts von Einschränkung zu spüren. Im „Down under“, der einzigen Bar des Fleckens, der gerade noch 800 Einwohner zählte, servierte Lloyd Stevens seine Drinks zu Live-Musik und Joints. Der Wirt, ein ehemaliger Mormonenprediger, der wegen seines zügellosen Lebenswandels aus der Kirche ausgeschlossen worden war, verkörperte das liberale Denken in der Stadt, die damals noch wie die Kulisse zu einem Wildwestfilm aussah. Und im „Steeps“, dem vom Schweizer Hans Fuegli geführten Restaurant an der Gondelstation, wurden die aus den Alpen gewohnten alkoholischen Pistengetränke wie „Schümlipfümli“ eben in Kaffeetassen und erst nach Codewort serviert.

In jener Zeit widerstand Park City nicht nur der geistlichen Übernahme durch die heiligen Tugendwächter, die Stadt überlebte auch den so genannten „Austrian rush“. Bei der Entdeckung der Rocky Mountains sowie anderer Bergketten in Übersee versuchten sich in erster Linie Österreicher, viele davon mit geradezu missionarischem Eifer, als brächten sie die allein seligmachende Botschaft in Sachen Skisport und Tourismus aus Kärnten, Tirol und dem Salzburger Land mit. „Die Amis hier waren nicht so blöd, um auf den Trick mit der B-Nationalmannschaft hereinzufallen“, erzählt Harald Schönhaar. Damals habe sich fast jeder Österreicher, der in der neuen Welt ins Ski-Geschäft habe einsteigen wollen, als Mitglied von Austrias B-Team ausgegeben. „Wäre er in der A-Mannschaft gefahren, hätte man das ja nachprüfen können.“

Harald Schönhaar aus Esslingen hatte es 1974 in die Wasatch-Berge überm Salzsee verschlagen, nach einer bayerischen Revolte gegen den schwäbischen Cheftrainer beim Deutschen Skiverband. Mit einem Truck fuhr er persönlich die Büromöbel fürs US-Ski-Team aus Denver nach Park City, das sich hier seine neue Zentrale ausgeguckt hatte. Mehr oder weniger zufällig. Aber auch, weil Craig Baldami, der Besitzer des Ski-Ressorts Visionen besaß, die weit über die touristische und sportliche Erschließung seines Bergparadieses hinausgingen. Um weltweit Reklame für ihre grandiosen Pulverschneepisten machen zu können, musste Park City Weltcup-Station werden. Schönhaar und Co. lockten den internationalen Ski-Zirkus mit dem Versprechen, man könne zu Saisonbeginn im Dezember Schnee sowie ein begeisterungsfähiges Publikum garantieren. Zur Premiere 1980 stiefelten 12.000 Ski-Freaks für einen Damenslalom den Hang hoch. Und das an einem Dienstagnachmittag.

So kam Park City auf die Landkarte des Weltsports. Und die Stadt wuchs und wuchs unter und mit ihren Liften und Gondeln. 8.000 Einwohner, 18.000 Gästebetten, 5.000 Villen- oder Appartementbesitzer sind mit einem zweiten Wohnsitz gemeldet. „Deer Valley“, eines der drei Skigebiete von Park City, wurde letztes Jahr zu Amerikas Nummer eins gewählt. Craig Baldami aber, der bereits 15 Jahre davor Olympia im Kopf hatte und sich auch nicht scheute, die einflussreichsten mormonischen Geschäftsleute und Politiker in Salt Lake City für diese Sache zu gewinnen, hat die Verwirklichung seiner Idee nicht erlebt. Er stürzte 1989 mit dem Hubschrauber ab, bei Aufräumarbeiten für das Weltcup-Rennen.

Nun gucken Millionen und Abermillionen auf seine Stadt, deren Schanzen, Bahnen, Rinnen, Parcours und Pisten, wo in den nächsten Wochen über ein Drittel aller olympischen Medaillen verteilt werden. Baldamis Freund Schönhaar aber lebt mit der Vorfreude eines kleinen Buben auf das Festival in seiner zweiten Heimat hin. Es sind seine zehnten Winterspiele, und zum erstenmal hat er dabei keinen offiziellen Job – der 61-Jährige kann also sein Heimspiel genießen. Wenn der Deutsche unterwegs ist in den Straßen, Läden und Restaurants von Park City hauen ihm die Leute herzlich auf die Schulter oder umarmen ihn. Und viele bedanken sich bei dem ehemaligen Cheftrainer und Direktor des Ski-Teams: „Harald, ohne dich hätten wir die Spiele nicht gekriegt!“ Schönhaar sagt dann gar nichts. Aber man sieht ihm an, dass er stolz ist, wenn ihn die Menschen von Park City als einen ihrer Gründerväter betrachten.