Kein Chef ist genehm


aus Gardes SVEN HANSEN

Kurz nach Passieren eines verschneiten Bergpasses wartet auf 2.300 Meter Höhe ein zerbeulter Minibus am Straßenrand. Darin sitzen acht bärtige Männer mit Armeeparkas, Turbanen und Kalaschnikows. Sie begrüßen die Besucher der Schura, der regionalen Stammesversammlung der ostafghanischen Provinz Paktia, und bieten Begleitschutz. Vorbei an Kontrollposten geht es ins Tal. Rote Steine am Straßenrand warnen vor Minen. Am Eingang der Provinzhauptstadt Gardes, 115 Kilometer südlich von Kabul, stehen vor einem Haus rund 50 bewaffnete Milizionäre. Im zweiten Stock tagt hier die Schura von Paktia. In dem mit Teppichen ausgelegten Raum sitzen gerade 30 überwiegend paschtunische Stammesälteste auf Kissen und diskutieren. Fast jeder trägt einen Vollbart, einen Turban und ein Patu, einen deckenartigen Schulterumhang. Einer trägt einen Patronengürtel quer über der Brust.

Der Sprecher der Schura, der 70-jährige Saifullah vom Paschtunenstamm der Achmadsai (s. Kurzinterview), begrüßt die Gäste, erklärt, dass die Schura 60 Mitglieder zählt und in ihr 20 Stämme und auch Nichtpaschtunen vertreten seien. Dann spricht sein Militärchef. „Gott dem Allmächtigen sei Dank: Wir haben Sicherheit in Gardes“, sagt Kommandant Momen, der jüngste der Männer. „Seit die Taliban unsere Stadt Mitte November verlassen haben, wurden bisher nur zwei Fahrräder gestohlen. Wir hatten seitdem keinen Mord mehr. Probleme bekamen wir erst, als die Regierung in Kabul Patscha Khan zum Gouverneur unserer Provinz ernannte.“

Patscha Khan ist ein Führer des Paschtunenstammes Dsadran. In den Achtzigerjahren kämpfte er gegen die sowjetischen Besatzer, in den Neunzigern verbündete er sich mit dem islamistischen Taliban-Gegner und Nordallianz-Chef Burhanuddin Rabbani. Zuletzt stand Khan dem in Rom lebenden Exkönig Sahir Schah nahe. Als Delegierter von dessen Rom-Gruppe nahm Khan Ende November auch an der Afghanistan-Konferenz in Königswinter teil. Damals hatte er nach Jahren des Exils gerade wieder Fuß in Afghanistan gefasst und eigene Kämpfer rekrutiert. Das machte ihn für die Rom-Gruppe attraktiv, die als Exilgruppe keine eigenen Truppen in Afghanistan hatte.

Käufliche Koalitionen

„Khan versuchte schon direkt nach dem Abzug der Taliban Paktia und seine zwei Nachbarprovinzen unter Kontrolle zu bekommen“, erklärt Momen. „Als er jedoch auf Ablehnung stieß, drohte er mit Waffengewalt.“ Khan habe sogar auf Vertreter der Schura schießen lassen, während er noch in Königswinter war, sagt Momen. „Wir haben uns darüber bei Hamid Karsai und den Amerikanern beschwert. Wir haben gesagt, dass wir Khan nicht akzeptieren.“

Nach dem Zusammenbruch des Taliban-Regimes übernahm in der für den Schmuggel strategisch wichtigen Provinz Paktia an der Grenze zu Pakistan eine Schura aus Vertretern der Stämme friedlich die Macht. In der Region, wo Koalitionen käuflich und temporär sind, wurden ehemalige Taliban meist integriert. Deren Führer wurden Gerüchten zufolge meistbietend an die USA oder andere interessierte Länder verkauft oder ihnen – ebenfalls für viel Geld – die Flucht über die Grenze ermöglicht. Auch Patscha Khan soll ehemalige Taliban in seine Truppen integriert haben.

Khan ist in Paktias Schura nicht vertreten, aber sein Stamm. Die Schura ernannte Saifullah zu ihrem Sprecher und zum Wunschkandidaten des von Kabul zu besetzenden Gouverneursposten. Saifullah selbst organisierte gegen Khans Machtansprüche eine Demonstration in der Stadt Khost.

Die Ehre verteidigt

Am Montag vor einer Woche ernannte die Übergangsregierung in Kabul dann Khan zum Gouverneur von Paktia, nach Meinung von Beobachtern ohne Rücksprache mit den lokalen Würdenträgern. Darauf zog Khan mit 200 Bewaffneten nach Gardes. Saifullah und die Stammeskrieger der Schura vereitelten Khans Machtübernahme. Laut Kommandant Momen starben bei den mit Raketen, Maschinengewehren und Mörsern ausgetragenen Kämpfen am Mittwoch und Donnerstag vergangener Woche 45 Menschen, meist Zivilisten. Es waren die schwersten Machtkämpfe seit Amtsantritt der Übergangsregierung Ende Dezember.

„Wir haben Khans Leute nicht angegriffen“, beteuert Momen, „sondern sie haben uns von den Bergen aus mit Raketen beschossen. Wir mussten Frauen, Kinder und unsere Ehre verteidigen.“ Laut Momen berichtete Patscha Khan in Kabul, die Schura habe ihn gerufen, um Gardes gegen al-Qaida-Terroristen zu verteidigen. „Wir baten darauf die Amerikaner, uns nicht zu bombardieren, denn hier sind keine Kämpfer von al-Qaida“, so Momen.

US-Flugzeuge überflogen während der Kämpfe die Stadt, griffen aber ebenso wenig ein wie Truppen der Übergangsregierung. Es ist die bisher größte Herausforderung der Autorität der noch jungen Übergangsregierung. Kabul bestimmt traditionell die Gouverneure der 30 afghanischen Provinzen. An Machtkämpfen wie in Gardes entscheidet sich, ob sich die Autorität der Übergangsregierung auf das ganze Land erstreckt oder nur auf Kabul. Die Regierung kann die Schura aber nicht gewaltsam entmachten, da dies den Friedensprozess und den Wiederaufbau gefährden würde.

Die Kämpfe um Gardes begannen, als Übergangspremier Karsai gerade im Ausland vergeblich um eine Vergrößerung der internationalen Friedenstruppe und eine Ausweitung ihres Einsatzes auf andere Städte warb. Nach seiner Rückkehr am Samstag kritisierte Karsai Khan und die Schura für die Gewaltanwendung. Ein Waffenstillstand wurde vereinbart, und Karsai schickte eine dreiköpfige Delegation nach Gardes, die jetzt mit den streitenden Parteien beim Tee verhandelt. Die Kabuler Regierung besteht darauf, weiter den Gouverneur zu bestimmen.

Gefangen in der Festung

Laut Kommandant Momen beschossen Khans Leute Gardes mit tausend Raketen. Beim Rundgang durch die ohnehin zum Teil zerstörte Stadt erscheint diese Zahl viel zu hoch. Dem Besucher wird ein ausgebrannter Minibus bei einer Werkstatt und einige leicht beschädigte Gebäude präsentiert. Die Zahl von 45 Todesopfern halten die UNO-Beobachter für glaubhaft. Gardes ist mit rund 50.000 Einwohnern eine wichtige Marktstadt auf einer Hochebene. Werkstätten und kleine Läden säumen die Straßen, kaum ein Haus hat mehr als zwei Stockwerke. Auf den Straßen sind etliche bewaffnete Milizionäre zu sehen, dagegen fast keine Frauen.

Auf einem Hügel über der Stadt thront eine alte Festung. Am Fuß steht ein Panzer, das Kanonenrohr zeigt nach Süden, von wo aus Patscha Khans Männer kamen. Ein Bewaffneter zeigt auf Berge in der Ferne und auf beschädigte Häuser am Fuß der Festung: „Von dort aus haben sie uns beschossen, hier schlugen ihre Raketen ein.“ In einiger Entfernung ist ein Dorf zu sehen. „Dorthin haben sich Patscha Khans Leute zurückgezogen und bauen eine neue Artillerie auf.“

Die Festung hat einen Turm mit einem Artilleriegeschütz und zwei schweren Maschinengewehren darauf. Sechzig deprimiert dreinblickende Männer wärmen sich vor dem Turm in der Sonne. Sie sind Gefolgsleute Patscha Khans und jetzt Gefangene der Schura. „Patscha Khan zeigte mir seine Ernennungsurkunde und bat mich, zu seiner Sicherheit mitzukommen“, sagt der Gefangene Hodscha Mohammad, der einen blauen Turban trägt. Nein, er habe nicht geschossen, Gewaltanwendung sei ihm verboten worden. Auch er wolle Frieden.

Auf dem Rückweg erzählt ein Mann auf dem Basar, der vom Schura-Sprecher Saifullah nicht viel hält, weil er die Menschen nicht hinter sich habe, eine dritte Variante: „Wir akzeptieren hier jeden Gouverneur, nur aus Paktia darf er nicht kommen. Denn das spaltet die Stämme hier.“