berliner szene
: Leben in der Simulation

Mulmig ohne Grund

Am Anfang der Berlinale ist man nervös und nimmt die Vorberichte der anderen mit einem gewissen Befremden zur Kenntnis. Denn was die an Attraktionen hervorheben, interessiert einen überhaupt nicht; die angebliche Begeisterung und Vorfreude vieler Kollegen kommt einem gespielt vor. Man fände es nicht schade, wenn die Stars zu Hause bleiben würden, man ist nicht gespannt auf bestimmte Filme, die Preise sind einem gleichgültig. Man weiss schon, wie man sich wieder ärgern wird über das SAT1-Pack vor dem Berlinale-Palast, und für irgendwelche Filmpartys hat man eh keine Zeit.

Eher freut man sich auf’s Ganze; auf das Ding an sich, auf den passiven Rausch in der wohltuenden Anwesenheit anderer, mit denen man sich nicht unterhalten muss, auf zehn Tage, die nur aus Gucken und Schreiben bestehen; auf zehn Tage Leben in der Simulation, im Rausch des So-tun-als-ob, der durch’s Geldverdienen geerdet wird.

Wie viele andere spielt man in dem Film, der dann anfängt, einen Filmkritiker, der leicht hysterisch von Kino zu Schreibtisch und dann wieder ins Kino rast und zwischendurch Kaffee trinkt. Spätestens nach dem ersten tollen Film hat man sich in die Rolle hineingesteigert und genießt das Zur-Kulisse-werden der wirklichen Welt, an deren Rändern Traumfiguren on film herumhampeln. Der Kontakt zur Realwelt beschränkt sich auf gelegentliche Einkaufsvorgänge während derer sich im Kopf die Filme und zu schreibenden Artikel miteinander unterhalten. Es ist wie in einem fragilen Drogenrausch, bei dem man aufpassen muss, dass man die Rauschumgebung nicht verläßt. Denn schon eine leichtsinnige Verabredung mit der wirklichen Welt kann zum Absturz führen.

DETLEF KUHLBRODT