Die Politik des Tanzens

Musik der Diaspora: Das Londoner Soul Jazz-Soundsystem agitiert heute Abend im Molotow  ■ Von Ulrich Seiter

Mit profunder Kenntnis über die soziokulturellen Hintergründe vorwiegend schwarzer und lateinamerikanischer Musik, mit akribischen Veröffentlichungen und stilvollem Artwork hat das Londoner Label Soul Jazz Records neue Standards gesetzt. Alleine, was sein Gründer Stuart Baker in der jüngsten Vergangenheit an verschollen geglaubten Reggae-Perlen der 60er und 70er entdeckte, ragt weit über die unüberschaubar gewordene Gemengelage der Kompilationen. Das Gütesiegel der Serie 100%500% Dynamite oder Kopplungen wie Studio One Soul, Studio One Roots und Studio One Rockers bekommen üblicherweise nur die Veröffentlichungen der ebenfalls in England beheimateten Reissue-Labels Blood & Fire und Pressure Sounds.

Die kurze Geschichte: 1988 eröffnet Stuart Baker einen auf Black Music spezialisierten Secondhand-Plattenhandel im Londoner Stadtteil Camden. Die Geschäfte gehen gut; drei Jahre später verlegt Baker die Räumlichkeiten in das Herz von swinging Soho. Dort gründet er das Label Soul Jazz mit dem Sub-Label Universal Sounds. „In England ist der Schritt vom Plattenladen zum Label üblich“, sagt Baker. „Auch Rough Trade, Warp oder Beggar's Banquet haben so angefangen – weil die Plattenhändler wissen, oder zumindest glauben zu wissen, was die Leute hören, ehe es die Plattenfirmen mitbekommen. Folglich können sie schneller reagieren und Marktlücken vor der Industrie erkennen.“

Die Theorie hat Baker in lukrative Praxis umgesetzt. Heute umfasst das Unternehmen des 37-jährigen gelernten Fotografen drei Labels mit mehreren Mitarbeitern, und er betreibt zwei populäre Clubabende. Mit der Marke Satellite Records lebt er seine Vorliebe für experimentellen Pop und White-Funk-Punk der frühen 80er durch Artist-Alben aus. Die magischen (Re-)Releases auf Universal Sounds mit (Free) Jazz bis Latino-Funk-Rock zeugen dagegen vom spürbar gewordenen Selbstbewusstsein der schwarzen und lateinamerikanischen Bevölkerung im Amerika der 60er und 70er. Auf Soul Jazz wiederum widmet er sich mit Zusammenstellungen wechselnden musikalischen Schwerpunkten.

Die im Namen des Mutterlabels enthaltenen Spartenbegriffe haben wenig mit dem Gros der wiederveröffentlichten Beliebigkeiten des Acid Jazz gemein. Vielmehr reißen sie bewusst geschmäcklerische Grenzen der Musikliebhaber ein. „Wenn ich unsere Veröffentlichungspolitik analysiere, dann liegt unser Schwerpunkt eindeutig auf Tanzmusik. Sie existiert seit Beginn der Zeitrechnung, urbane Dance Music gibt es aber erst seit dem letzten Jahrhundert. Genau hier liegt unser Hauptinteresse: von 40er-Jahre-Polka bis 80er-Jahre-Acid-House“, erklärt Baker.

Bevor die Labels veröffentlichen, wird mit wissenschaftlicher Sorgfalt recherchiert. Das Team durchstöbert Dachböden, evoziert das Langzeitgedächtnis von Zeitzeugen und durchsucht Archive von Radiostationen. Zielobjekt der Rasterfahndung sei eine „Musik der Diaspora“. „Es ist jedoch nicht der einzige Zusammenhang. Bei der Zusammenstellung In The Beginning There Was Rhythm geht es um die Ankunft der Dance Music im Großbritannien der Post-Punk-Ära. Der Zusammenhang ist hier abstrakter: Musik, die Grenzen überschreitet. Amerika ist besonders interessant, weil es dort viele Kulturen gibt, die sich vermischen und neue Kulturen und Musikstile hervorbringen.“

Ein Bestseller ist Nu Yorica. Die Retrospektive der brodelnden Latino-Szene im Melting Pot New York beeindruckte die dortige House-Institution Masters At Work. Auch das letztjährige Debüt des afrikanischen Ifa-Priesters Osunlade kam dank spiritueller Deep-House-Tracks wie „Blackman“ in die Playlists angesagter Discjockeys.

Wegen des ganzheitlichen Ansatzes betreibt Soul Jazz Records zugleich ein eigenes Soundsystem, inzwischen mit weltweiten Engagements. Die an der Themse etab-lierten Soul-Jazz-DJ-Nächte machen nun – von heute an jeden zweiten Freitag im Monat im hiesigen Molotow - auch Hamburg zum Vorort Londons. Freuen wir uns auf die lange Premierennacht mit Dekaden übergreifenden Rare Grooves der Altvinylogen Pete Reilly and Abi Clarke.

heute, 23 Uhr, Molotow