Die Suche nach der verlorenen Unschuld

Berlin trinkt, tanzt, träumt und versucht dabei, sich ein neues Antlitz zu geben und den Schutt der Geschichte in eine Immobilie von Wert zu verwandeln: Die Fotogalerie Friedrichshain zeigt Arbeiten des Berliner Fotografen Rolf Zöllner

Vor der Fotogalerie Friedrichshain stehen zwei und schließen die Augen: Sie hören und riechen in den Wind. Plattenbau, Blumenkübel aus Beton, zugige Ecken: Gemütlich ist es nicht vor der Galerie. Aber diesem dezenten Brutalismus zu trotzen, lernt man hier vielleicht am besten. Das jedenfalls ist eine Stärke der Fotografien, die Rolf Zöllner in Friedrichshain ausstellt.

Als das Autofahren noch verboten war, träumte die Stadt: Kinder könnten auf der Straße spielen, statt Verkehrserziehung steht Lesen und Türme bauen auf dem Stundenplan. Für kurze Momente gab es solche Visionen in Berlin nach dem Abbau der Mauer. Rolf Zöllner hat sechs Kinder und einen Hund fotografiert, die im Gleimtunnel, bevor er für den Autoverkehr geöffnet wurde, eine Kinovorstellung besuchten. Lichtflecken tanzen wie Sterne über das Bild, weil die Tunnelabdeckung Löcher hat. Zöllner hat viele solcher Momente festgehalten, als sich in den Lücken zwischen alten und neuen Beschlüssen Künstler, Romantiker und realer Surrealismus breit machten. Aber auch die Fotografen, die auf der Jagd nach solcher Idylle in manches marode Gelände wie Heuschrecken einfielen, hat er aufgenommen.

Wie die Stadt sich ein neues Gesicht zulegt und versucht, den Schutt der Geschichte in eine Immobilie von Wert zu verwandeln, ist ein Subtext seiner Chronik. Es begann wie ein Spiel in den Trümmern, als müssten die Bewohner ihre verlorene Kindheit nachholen. Geblieben sind aus dieser Zeit vor allem die Cafés: Wie unwahrscheinlich ihre zusammengesuchten Stühle und Tische in dieser von parkenden Autos und Ladenlogos fast freien Gegend noch vor wenigen Jahren aussahen, kann man hier noch einmal nachvollziehen.

Heute quellen Touristen und Schülergruppen aus dem S-Bahnhof Oranienburger Straße und fluten ins Postfuhramt und durchs Scheunenviertel. Kurz bevor der Bahnhof wieder in Betrieb genommen wurde, tauchten einige Skulpturen aus bröselndem Gips auf dem Bahnsteig auf, beleuchtet nur vom Licht der vorbeifahrenden Züge. In Zöllners Bildern vom „Geisterbahnhof“ findet man das Staunen wieder, dass zwei Systeme so nah und doch so ohne Wahrnehmung voneinander existieren konnten.

Auf der Pferderennbahn in Karlshorst entstand 1983 das erste Bild, mit dem Rolf Zöllner, bis dahin Elektromonteur, zufrieden war. Da stehen ein paar Männer in Lederjacken und Hütchen, nicht sehr groß, nicht mehr jung, ein bisschen muffig, mit viel Raum zwischen sich und doch vereint in dem Gefühl, Besseres an diesem Tag des geplanten Ausbruchs aus dem Alltag verdient zu haben. Nicht gerade ein Bild der Lebensfreude. Und doch ist seine emotionale Dichte sehr viel größer als die der Aufnahmen vom Potsdamer Platz daneben. Da huschen ein paar Anzugträger durch eine Weite, die Spannung im Bild nur gibt, weil der Fotograf die Kamera schräg stellt. Solche Tricks braucht er sonst nicht.

„Ich bin ein Schwarz-Weiß-Fotograf“ sagt Zöllner, der seit Anfang der 90er-Jahre auch viel für die taz gearbeitet hat. Einmal war er auf Farbe aus, beim Tanztee im Pratergarten, und nahm nur nebenbei noch einen Schwarz-Weiß-Film mit. „Aber das waren eindeutig die besseren Bilder“, stellte er fest.

Alles ist groß an den alten Damen, die sich dort ein paar mutige Galane teilen müssen: die Locken, die Brillen, die Rüschen, die Blumen auf den Kleidern und vor allem das Lächeln. Vier Jahre lang hielt Zöllner ihnen fotografisch die Treue: „Die sind so gut drauf, das habe ich in keiner Diskothek gefunden.“

KATRIN BETTINA MÜLLER

Fotogalerie Friedrichshain, Helsingforser Platz 1, Di–Sa 13–18 Uhr,bis 1. März.