Nur die Hälfte kehrt zurück

Es geht nicht um Freiheit, sondern ums Überleben: „Le Peuple Migrateur“ von Jacques Perrin bebildert nur die Reise der Zugvögel, ohne ihr Geheimnis zu lüften. Zum Schluss singt Nick Cave noch ein trauriges Lied

Zugvögel sind Phänomene. Jedes Jahr legen sie rastlos tausende von Kilometern zurück, um für ein paar Monate Kälte und Nahrungsmangel zu entfliehen. Wenn sie dann im Herbst oder Winter ihre Brutgebiete verlassen, geben sie ein Versprechen ab, orakelt es zu Beginn von „Le Peuple Migrateur“, dem neuen Dokumentarfilm des französischen Regisseurs Jacques Perrin. „Das Versprechen der Rückkehr“, sagt die Stimme aus dem Off. Aus Menschenmunde erfahren wir von nun an kaum noch etwas. Ähnlich wie in „Microcosmos“, Perrins Film über die Welt der Insekten, lässt er auch dieses Mal fast ausschließlich seine Bilder sprechen, vor allem aber seine gefiederten Akteure: Mehr als fünfzig Zugvogelarten lärmen um die Wette und zuweilen auch um ihr Leben.

„Das Geheimnis der Zugvögel“ – so der Untertitel des Films – ist eine luftige Weltreise. Und wir fliegen fast hundert Minuten mit, hoch oben über den Wolken, unter uns prominente Geomorphologien: die dunklen Schluchten des Grand Canyon, die hinesische Mauer im Schneesturm und die leuchtenden Herbstwälder Nordamerikas. Dabei sind wir immer auf Flughöhe mit dem Vogelschwarm, das Gefieder zum Anfassen nah. Ja, mehr noch, wir blicken mit den Augen eines Vogels. Mal geben wir den Staffelführer der Weißwangengänse, neben und hinter uns die schnatternden Artgenossen.

Mal mimen wir eine sibirische Singschwanmutter, die ihren Jungen das Kommando zum Landen gibt. Dann starren wir mit Kanadagänsen auf die Skyline Manhattans (noch ohne Baulücke). Und von einem Augenblick zum anderen befinden wir uns plötzlich über dem Regenwald des Amazonas, auf den Schwingen eines bunten Papageis.

Perrin fasziniert der „tierische Blick“, den er ohne computertechnische Raffinesse zu visualisieren sucht. Bei ihm ist alles echt. Dabei ist der Trick seiner ungewöhnlichen Nahaufnahmen so banal wie natürlich: Die Hauptdarsteller des Films wurden in einer Vogelschule von Hand aufgezogen, sie sind sozusagen als Filmstars geboren. Gänseprofessor Konrad Lorenz hatte es in den Dreißigerjahren vorgemacht: Die Küken folgen auf Schritt und Tritt demjenigen, der sich nach dem Schlüpfen zuerst um sie kümmert – im Fall Perrins waren die Ersatzeltern der Vögel die Kameraleute und Piloten eines Ultraleichtflugzeugs.

Doch davon ist im Film nichts zu sehen. Der Mensch tritt hier gänzlich in den Hintergrund, was wohl Voraussetzung dafür ist, sich als Mitglied eines Vogelzuges zu fühlen. Das gelingt in vielen guten Momenten auch. Dennoch ist es schade, dass so gut wie nichts kommentiert wird.

Wie schaffen es manche der Tiere, dreißig bis vierzig Stunden nonstop zu fliegen? Welche Mechanismen stehen hinter den rasenden Regenerationszeiten kurzer Pausen? Wir wissen es nicht und werden es auch im Film nicht erfahren. Es ist nicht Perrins Sache, seine Aufnahmen wortreich zu erläutern. Der 60-jährige Schauspieler und Regisseur ist kein Grzimek der Vogelwelt. Das Geheimnis der Zugvögel behält Perrin für sich. Wir sehen nur äußerst beeindruckende Bilder.

Und wenn uns dann im Abspann Nick Cave ein trauriges Schlusslied singt und die Namen der fast 300-köpfigen Filmcrew an uns vorüberziehen, wissen wir immerhin soviel: Der Zug der Vögel ist weniger große Freiheit und Vergnügen als vielmehr brutaler Kampf ums Überleben. Denn nur etwa die Hälfte der Tiere kann ihr Versprechen halten und kehrt im Frühjahr zurück. Der Rest bleibt auf der Strecke. Was für ein Vogelleben!

TIM BARTELS

„Le Peuple Migrateur“. Regie: Jacques Perrin. Frankreich 2001, 95 Min., heute, 20 Uhr, Cinemaxx 4