„Schwelle für Anzeigen ist enorm hoch“

Sanichta Basu, Mitarbeiterin der Opferberatungsstelle Reach Out, weiß, dass viele Übergriffe nicht angezeigt werden

taz: Frau Basu, in den letzten Wochen wurden fast täglich neue rassistische Angriffe aus den Ostbezirken der Stadt gemeldet. Spiegelt das nach Ihrer Erfahrung die Realität wieder?

Sanchita Basu: Nein, rassistisch motivierte Gewalt gibt es genauso im Westteil Berlins. Ein Unterschied ist höchstens, dass Rechte in Ostberlin im Straßenbild offensichtlicher als solche zu erkennen sind als in den westlichen Bezirken. Das merken wir an den Erfahrungen der Betroffenen, die zu uns kommen, und auch aus eigenem Erleben.

Wie gehen die Betroffenen mit solchen Ereignissen um?

Migranten, die schon lange in Deutschland leben, haben gelernt, damit umzugehen. Wenn es nicht so schlimm ist wie jetzt beispielsweise der Angriff auf die libanesischen Frauen in Hellersdorf, dann geht man oft nicht zur Polizei. Die Schwelle, ab der ein Übergriff angezeigt wird, ist enorm hoch. Offenbar zeigt sich darin auch eine Überlebensstrategie von Migranten, die ich auch bei mir selbst festgestellt habe. Im vergangenen Sommer wurde ich auf dem Flohmarkt vor dem Rathaus Schöneberg von einer älteren Frau ohne irgendeinen ersichtlichen Grund mit voller Wucht ins Gesicht geschlagen. Dazu schrie die Frau, was „so eine wie ich“ überhaupt hier zu suchen hätte. Bis auf einen arabischen Mann hat sich niemand aufgeregt oder eingemischt. Meine eigene Reaktion war vor allem Überraschung und Fassungslosigkeit. Auf die Idee, damit zur Polizei zu gehen, wäre ich auch nicht gekommen.

Was raten Sie denjenigen, die zu Reach Out kommen?

Wir fragen die Opfer, ob sie etwas machen wollen und zeigen ihnen, welche Möglichkeiten sie haben. Viele haben schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht oder befürchten Gegenanzeigen und zögern deshalb, Anzeige zu erstatten. Wir weisen dann auf die Möglichkeit hin, direkt bei der Staatsanwaltschaft Anzeige zu stellen. Oder wir bieten den Betroffenen an, sie zur Polizei zu begleiten. Das wichtigste ist aber, dass sie selbst entscheiden, was geschehen soll.

Eineinhalb Jahre nach dem Aufstand der Anständigen gibt es zwar jede Menge Programme und schöne Reden gegen Rechtsextremismus. Aber die Situation scheint sich nur unwesentlich zu verbessern. Wo müsste angesetzt werden?

Dringend notwendig ist mehr Bildungsarbeit. Opferberatung macht einfach nur dann Sinn, wenn es auch eine vernünftige Prävention gibt. Denn wenn wir eingeschaltet werden, ist es schon fünf nach Zwölf. Das heißt ganz schlicht: Die Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus sollte fester Bestandteil von Lehrplänen und in sozialen Einrichtungen werden. Ein Schwerpunkt sollte auf jeden Fall die Erwachsenenbildung sein, Rassismus ist kein Jugendphänomen.

Sehen Sie denn auch positive Entwicklungen?

Sowohl in Brandenburg als auch in Ostberlin werden immer mehr junge Leute wachsamer. Es gibt durchaus Schulen, in denen 14- und 15-Jährige selbstständig Seminare gegen Rechts organisieren. Das ist anders als in den Neunzigern.

Sanchita Basu lebt seit 21 Jahren in Deutschland. Sie ist Mitarbeiterin der Beratungsstelle „Reach Out“ für Opfer rassistischer und rechtsextremer Gewalt, Köpenicker Straße 9, 10999 Berlin, Tel. 69 683 39