Indisch-pakistanisches Wettrennen

Von Zeit zu Zeit verkündet die indische Regierung politische Botschaften in dem kleinen Ort Chandipur am Golf von Bengalen, hundert Kilometer südwestlich von Kalkutta. Hier liegt das streng abgeschirmte Raketentestgelände der indischen Streitkräfte

von KENO VERSECK

Angesichts eines möglichen Krieges mit dem Erzfeind Pakistan testete Indien vor zwei Wochen eine Agni-Rakete, die Atomsprengköpfe tragen kann – einer von zahlreichen Tests in den letzten Jahren. Die Agni-I hat eine Reichweite von etwa 700 Kilometern, kann Waffen bis zu einem Gewicht von einer Tonne tragen und soll die Lücke zwischen Kurzstreckenraketen sehr geringer Reichweite und Mittelstreckenraketen ausfüllen. Diesmal will Pakistan auf einen Gegenschritt verzichten. Gewöhnlich antwortet das Land mit einem Raketentest vergleichbarer Qualität.

Tit for tat, sagen Militärs dazu: Wie du mir, so ich dir. Nach diesem Motto verläuft das Atombomben- und Raketenwettrennen auf dem indischen Subkontinent seit Jahren und ist zum gefährlichsten Wettrüsten seit dem Ende des Kalten Krieges geworden. Vor knapp vier Jahren war die vorletzte Stufe der Eskalation erreicht: Im Mai 1998, kurz nachdem in Indien eine nationalistische Koalition an die Macht gekommen war, führte das Land eine Testserie mit fünf Nuklearexplosionen kleinerer und größerer Intensität durch. Pakistan anwortete mit einer „Fünf plus eins“-Serie: Der sechste Test sollte eine späte Antwort auf den ersten indischen Atombombenversuch von 1974 sein.

Weil sich Indien und Pakistan der Rüstungskontrolle entziehen, ist über Sprengkraft und Zustand der Atomwaffen in beiden Ländern wenig bekannt. Vermutlich übertreiben beide Länder die Sprengkraft ihrer Waffen. Seismische Daten nach den Testserien 1998 haben ergeben, dass Indien 25-Kilotonnen-Bomben besitzen könnte, Pakistan solche von der Intensität der Hiroschima-Bombe (13 Kilotonnen TNT). Die offiziellen Angaben betragen jeweils fast das Doppelte.

Auch über die Anzahl gehen die Expertenschätzungen auseinander. Indien soll über Material für 60 bis 250 Atomsprengköpfe verfügen, Pakistan über Material für 10 bis 150. Ebenfalls keine gesicherten Angaben gibt es über die Einsatzbereitschaft der Atomwaffen in den beiden Ländern. Indien soll möglicherweise 25 abschussbereite Sprengköpfe besitzen, Pakistan 10.

Ein besonders für die US-Geheimdienste peinliches Detail zeigt, dass der Westen Probleme hat, Informationen über das indische und pakistanische Atomwaffenprogramm zu sammeln: Indien war es im Mai 1998 mit Tarnmanövern gelungen, seine Atomtests bis zuletzt vor amerikanischen Überwachungssatelliten geheimzuhalten.

Obwohl Indien und Pakistan längst nicht auf dem technologischen Stand der fünf Atommächte USA, Russland, China, Großbritannien und Frankreich sind, haben sie jahrzehntelange Erfahrungen in der Atomwaffenforschung. Indien baute seinen ersten nuklearen Versuchsreaktor ab 1955, Pakistan ab 1965. Beide Anlagen dienten dem langfristigen Ziel, angereichertes Uran und Plutonium zu produzieren.

Wissenschaftliches und technologisches Know-how kam vor allem aus westlichen Ländern, darunter den USA, Kanada, Großbritannien und Frankreich. Auch Deutschland half mit: In den Siebziger- und Achtzigerjahren lieferten deutsche Firmen Komponenten für Uran-Anreicherungsanlagen nach Pakistan. Indien erhielt aus Deutschland umfangreiche Hilfe beim Bau ziviler Raketen – Know-how, das auch militärisch verwertbar war.

Erst ab Ende der Achtzigerjahre schränkten westliche Länder die Kooperation ein. In welchem Zustand indische und pakistanische Atomanlagen heute sind und welche Kapazitäten sie haben, darüber existieren nur wenige sichere Erkenntnisse. Indien etwa kooperiert kaum mit der Internationalen Atomenergiebehörde IAEO. Seine Kernreaktoren und Anreicherungsanlagen sollen in einem vergleichsweise schlechten Zustand sein.

Nach den Atomtests von 1998 konzentrierten sich beide Länder vor allem auf die Weiterentwicklung von Raketen, die Atomwaffen tragen können. Indien profitierte dabei von seinem Raumfahrtprogramm, das offiziell ausschließlich friedlichen Zwecken dient, tatsächlich aber eng mit dem militärischen Raketensektor verknüpft ist.

So baute Indien in den Achtzigerjahren die erste Stufe der zuvor erfolgreich gestarteten kleinen Satelliten-Trägerrakete SLV-3 zur ersten Stufe einer ballistischen Mittelstreckenrakete um. Diese frühe Version der Agni-Rakete wurde erstmals 1989 getestet. Weitere Tests folgten 1992, 1994, dann wieder nach 1998. Besonders im letzten Jahr testete Indien reihenweise konventionelle Abwehr- und atomwaffentaugliche ballistische Raketen und verfügt nun über Raketen für fast alle Entfernungen, einschließlich einer U-Boot-tauglichen Kurzstreckenrakete.

Mit der Entwicklung einer Interkontinentalrakete, die Indien in seinem Waffenarsenal noch fehlt, hat das Land begonnen. Auch hierbei spielt die zivile Raumfahrt eine Vorreiterrolle: Im April letzten Jahres startete Indien erfolgreich eine GSLV-Trägerrakete mit einem geostationären Satelliten. Sie könnte als Grundlage einer Interkontinentalrakete dienen.

Bei der Entwicklung der GSLV-Rakete half Russland, das seit langem Indiens wichtigster Partner in der zivilen Raumfahrt und im Militärbereich ist. Russland lieferte schon vor Jahren Teile kryogenischer (Tieftemperatur-) Triebwerke für hocheffiziente, schubstarke Raketen an Indien. Auf US-amerikanischen Druck hin zeitweilig eingestellt, läuft die Kooperation seit letztem Jahr wieder. Indiens Ziel ist, in zwei bis drei Jahren eigene kryogenische Triebwerke zu entwickeln, die sowohl für den zivilen als auch für den militärischen Einsatz gedacht sind.

Pakistan ist seinem Nachbarn technologisch zwar unterlegen, erhält aber seit langem von Indiens zweitem Erzfeind China Hilfe beim Bau von ballistischen Raketen. Das Land besitzt drei Raketentypen der Klasse „Hatf“ mit einer Reichweite von bis zu 800 Kilometern sowie zwei Raketentypen der Klasse „Ghauri“ mit einer Reichweite von bis zu 2.000 Kilometern. Beide Raketentypen sollen auf chinesischen Raketensystemen basieren.

Indien ist unterdessen in einen mindestens ebenso exklusiven Klub aufgestiegen wie den der Atommächte: Ende Oktober letzten Jahres startete es seinen ersten Spionagesatelliten, den Technologie-Experimental-Satelliten TES, dessen Kamera Bilder mit einer Auflösung von unter einem Meter liefert. Dazu sind sonst nur noch amerikanische und vermutlich russische Spionagesatelliten sowie die privaten kommerziellen Ikonos-Satelliten in der Lage. Offiziell heißt es bei der indischen Raumfahrtagentur ISRO, die den Satelliten ins All brachte, er werde zivil genutzt. Die Regierung ordnete jedoch an, TES-Aufnahmen aus strategischen Gründen geheimzuhalten. Und indische Militärs gaben bereits kurz vor dem Start inoffiziell zu, dass die TES-Kamera vor allem die Grenzen zu Pakistan und China überwacht.