Den gestreckten Finger am Abzug

aus Kabul SVEN HANSEN

„Wir sind gekommen, damit Kabul sicher wird und die Kinder im Frühling wieder zur Schule gehen können.“ So stellt sich der deutsche Oberfeldwebel, der sich gegenüber Afghanen und deutschen Medien nur Rasputin nennt, bei Mohammad Salim Surmati vor. Der ist Chef des Kabuler Polizeidistrikts Nummer 10. In seiner kargen Amtsstube gibt es keine Akten, Stadt- oder Einsatzpläne, aber einen warmen Ofen. Der deutsche Rasputin ist mit zehn Fallschirmjägern, ausgestattet mit schusssicheren Westen, Allradjeep, offenem Lkw und Panzerwagen, vom Bundeswehrquartier am östlichen Stadtrand gekommen, um hier Polizisten zur gemeinsamen Patrouille abzuholen.

Zunächst heißt es, Vertrauen bilden und sich kennen lernen. Um ihre afghanischen Partner leichter identifizieren zu können, haben die Deutschen eine Pocketkamera dabei und bitten um „Erinnerungsfotos“. Surmati werden Abzüge versprochen. Geschmeichelt lässt er sich ablichten.

Der deutsche Oberfeldwebel lässt von einem in der DDR ausgebildeten afghanischen Offizier übersetzen: „Wir wollen heute Ihren Distrikt genauer kennen lernen. Denn wenn wir nachts Patrouille fahren, stehen manchmal zu wenige Polizisten zur Verfügung. Dann brauchen wir Verstärkung von anderen Wachen. Diese wollen wir jetzt bei der Patrouille besuchen.“

Kalaschnikows für jeden

Auf dem Hof treten elf Afghanen an, Polizisten. Sie haben zwar eine grüne Filzuniform, da die aber nicht gegen die eisigen Temperaturen schützt, trägt jeder auch eine zivile Jacke und ein Halstuch. Keiner gleicht dem anderen, doch alle haben Kalaschnikows. Bis vor kurzem haben sie noch auf Seiten der Nordallianz die Taliban bekämpft. Jetzt bekommt jeder Polizist einen deutschen Soldaten an die Seite. „Wir assistieren, damit sie überhaupt ernst genommen werden“, erklärt der deutsche Presseoffizier und lobt seine Fallschirmjäger, dass sie sich dafür nicht zu schade sind. Im Umgang mit den Afghanen werden Einfühlungsvermögen und interkulturelle Kompetenz gebraucht. Darauf sind die Soldaten kaum vorbereitet.

Gulani Jailani hat Handgranaten dabei, als er auf die Ladefläche des deutschen Zweitonners steigt. Auf die Frage, wozu er die als Polizist denn braucht, sagt der 23-Jährige, er gehöre zur Leibwache des Kommandanten, der habe sie ihm gegeben. Jailani ist seit fünf Jahren bei der Nordallianz. Seinen letzten Sold hat er Mitte November, nach der Einnahme Kabuls, bekommen: 400.000 Afghani, damals etwa zehn Euro. Wovon er lebt? Freundlich und knapp antwortet er: „Von diesem und jenem.“ Vielleicht macht ja Jailani gerade die Stadt unsicher, wenn Rasputin sich wundert, dass nachts wieder nicht genug Polizisten für die gemeinsame Patrouille bereit stehen. Der Dolmetscher berichtet, dass kürzlich ein Offizier der Nordallianz bei einem Überfall geschnappt wurde.

Rasputin geht zu Fuß

Auf den vorbeifahrenden Militärkonvoi reagieren die Kabuler inzwischen gelassen. Es winken nur noch wenige. Einer der Fallschirmjäger berichtet, dass er sich zunächst wie auf einem Prinzenwagen beim Karneval vorgekommen sei – ihm schmerzte der Arm vom vielen Winken. Er bevorzugt es, nachts zu patrouillieren, wenn weniger Menschen auf der Straße sind. Da sei er mit dem Nachtsichtgerät im Vorteil, selbst wenn die Kriminalität dann hoch sei.

Rasputins Trupp erläuft sich zu Fuß ein den Deutschen bisher unbekanntes Viertel, die Fahrzeuge folgen. Der Oberfeldwebel fordert Basarhändler auf zu melden, wenn sie verdächtige Bewaffnete sehen. Für Festnahmen sind die Soldaten der Internationalen Sicherheitshilfstruppe (International Security Assistance Force – Isaf) jedoch nicht zuständig, das ist der Job der begleitenden Afghanen. „Wir sind ein Puffer und eine Stabilisierungstruppe, keine Polizei“, sagt der britische Isaf-Presseoffizier Johnathan Turner.

Zwar ist die aus 18 Nationen bestehende Truppe nach der UN-Resolution 1386 mit einem „robusten“ Mandat ausgestattet; der Gebrauch der Schusswaffe ist also erlaubt. Doch dient die Isaf eher der Abschreckung und Flankierung politischer Maßnahmen. Ohnehin ist ihr Einsatz auf Kabul beschränkt. UNO-Vertreter und Afghanistans Interimsregierungschef Hamid Karsai fordern deshalb eine größere Truppe auch für andere Städte. Bei der Isaf ist man jedoch skeptisch. „Das würde eine neue Friedenstruppe mit einem anderen Mandat erfordern“, so Offizier Turner. Die Briten, die die Isaf zur Zeit führen, wollen vielmehr bis Ende April einen Großteil ihrer Soldaten abziehen. Eine Stationierung der Isaf in anderen Städten halten auch Bundeswehrvertreter in Kabul für unwahrscheinlich. Das sei eine politische Entscheidung, zu der momentan niemand bereit zu sein scheine.

Ruhe durch Präsenz

Jetzt hat die Truppe vor allem eine psychologische Funktion. Sie hilft bei der Befriedung der Hauptstadt, soll durch bloße Präsenz Gewalttäter abschrecken und so politische und zivile Handlungsspielräume vergrößern. Fraglich ist, wie lange sich Afghanistans Warlords davon beeindrucken lassen. Erste kleine bewaffnete Konflikte hat es bereits außerhalb Kabuls gegeben.

Die Soldaten verteilen Flugblätter mit der Aufschrift „Isaf ist hier auf Einladung der Interimsregierung und unterstützt deren Bemühungen für nationale Einheit und Frieden in Afghanistan“. Zur Zeit gibt es bei den Flugblättern aber Nachschubprobleme. Sie sind, wie so manch andere Schwierigkeiten, auf die begrenzten Kapazitäten des Kabuler Flughafens zurückzuführen. Der wird sofort geschlossen, wenn die Berge ringsum in Wolken gehüllt sind.

Bisher sind 3.200 der 5.000 vorgesehenen Isaf-Soldaten in Kabul, darunter knapp 400 Deutsche. Mitte Februar soll die Truppe vollständig sein. Dann wird die Frequenz der Patrouillen erhöht und mit der geplanten Ausbildung der afghanischen Armee begonnen. Kabul ist in britische, französische und deutsche Sektoren aufgeteilt, für die jeweils Soldaten der drei Staaten mit den ihnen zugeteilten kleineren Kontingenten anderer Länder zuständig sind. Zum deutschen Bereich gehören Niederländer und Österreicher.

Jede Nation führt Patrouillen auf ihre Weise durch: So wirkte ein britischer Trupp im zerstörten Westen Kabuls kürzlich, als sei er in Nordirland. Die patrouillierenden Soldaten verteilten sich rechts und links der Straße und suchten – sich gegenseitig deckend – in Hauseingängen Schutz vor imaginären Angreifern. Dutzende Kinder standen neugierig davor.

„Sagen Sie: Havanna“

Nach knapp drei Stunden – mit kurzen Stopps bei den Polizeiwachen des Distrikts – kehrt Rasputin mit den Polizisten in die Kaserne zurück. Er lobt ihre Disziplin und dass sie ihre Zeigefinger nicht am Abzug der Waffen hatten, sondern ausgestreckt daneben.

Polizeichef Surmati bittet Rasputin, seinen in Deutschland lebenden Bruder anzurufen. Zum Dank lädt er Rasputin zum Essen ein. Doch der sagt: „Wir dürfen bei den Einheimischen nur Tee trinken und Brot essen, alles andere ist uns verboten.“ Stattdessen schlägt der Deutsche dem Afghanen vor, gelegentlich mal gemeinsam Zigarren zu rauchen. Der Dolmetscher stutzt, Rasputin mimt einen Zug von einer Zigarre und sagt gönnerisch: „Sagen sie ihm Havanna und Fidel Castro.“ Surmati ist entsetzt.