peters paradise
berlinale-momente der wahrheit: cineasten in not
: Produktive Unpünktlichkeit

Was natürlich alle interessiert: Wie steht es im Wettbewerb? Wer hat die Nase vorn? Was geht am Potsdamer Platz? Da allerdings von den zirka sieben Beiträgen, die bislang gelaufen sind, von dieser Stelle aus nur anderthalb gesehen wurden, lässt sich nicht viel mehr sagen als: Nichts muss, alles kann!

Noch scheint nichts entschieden, und das Publikum nimmt die dargebotene Filmkunst noch mit professioneller Gelassenheit zur Kenntnis. Allein dem Kurzfilm „Site“ von Jason Kliot, den man zur Einstimmung auf einer der mittlerweile berüchtigten Anna-Thomson-Interpretationen von Amos Kollek zeigte, wurde seitens der Zuschauer einiger Unmut entgegengebracht. „Buh!“, schallte es durch den Saal, „buh!“ und dann noch mal „buh!“.

Irgendwie muss es dabei um den 11. September gegangen sein. Um was es allerdings genau ging, war nicht zu klären. Manche Filme fangen einfach zu pünktlich an. Überhaupt sind die Pünktlichkeit und die Unpünktlichkeit neben dem beklagenswert überschaubaren Angebot in Sachen Nahrungsmittelversorgung auch dieses Jahr wieder die Grundübel der Berlinale. Ein Umstand, durch den sich allerdings ein vermeintlicher Berlinale-Nachteil letztendlich als Vorteil erweist: das krause Überangebot an Vorführungen, das zwangsläufig zu einer erheblichen Unübersichtlichkeit führt. Denn wenn man für den einen Film zu spät kommt – und das ist wirklich praktisch –, so kommt man zu irgendeinem anderen Film garantiert zur rechten Zeit. Und meist erweist sich irgendein anderer Film als viel besser als jener Film, den man eigentlich sehen wollte – jedenfalls kann man sich das problemlos einreden, weil man den Film, den man nicht gesehen hat, ja gar nicht kennt.

Der Begriff „produktives Zu-spät-Kommen“ bringt diese Praxis auf den Punkt. Daraus folgt, dass sowohl Pünktlichkeit als auch Unpünktlichkeit nicht nur Grundübel einer jeden Berlinale sind, sondern auch Grundvoraussetzung für ihr jeweiliges Gelingen. Daraus folgt weiter, dass manche Vor- und Nachteile sich für die Zeit der Filmfestspiele nicht nur dialektisch, sondern auch noch wie von selbst erledigen. Das macht die Berlinale zu etwas Besonderem.

Alles in allem eigentlich schlichte Einsichten, gegen die sich viele allerdings noch wehren. Es ist immer wieder wunderbar, in die Gesichter fassungsloser Filmjournalisten zu blicken, die von freundlichen Kartenabreißern gesagt bekommen, dass der entsprechende Saal bereits derart überfüllt ist, dass leider kein Einlass mehr gewährt werden kann. Als am Donnerstagabend im Rahmen der „Perspektive Deutsches Kino“ genannten Reihe die Kurzfilmrolle „99 Euro-Films“ präsentiert wurde, war wieder ein solcher Moment. Und plötzlich sah man die Fassungslosigkeit auf den Gesichtern sich in Wut und Trauer, ja mitunter in Gewaltbereitschaft verwandeln. Ein schöner Moment, der so viel mehr über hauptberufliche Cineasten sagt als tausend schlaue Texte. Als gäbe es, wenn man schon den ganzen Tag im Kino saß, nichts Besseres, als sich noch einmal ins Kino zu setzen.

Wenn man die Möglichkeit hat, rund um die Uhr ins Kino zu gehen, scheint es zunächst zwar vernünftig, diese Möglichkeit auch wahrzunehmen, aber wer ist schon gern vernünftig? Viel unvernünftiger und mithin auch interessanter, gewissermaßen schon auf eine dekadente Weise interessant ist es, diese Möglichkeit bewusst nicht wahrzunehmen. Sich damit vom Joch der organisierten Filmkunst zu befreien, die einen nicht nur herniederdrückt und belastet wie ein Husten oder Schnupfen, sondern im Falle der Berlinale auch noch ungefähr die gleiche Laufzeit hat: Drei Tage kommt sie, drei Tage bleibt sie und drei Tage später ist sie schon wieder fort. Hinterher scheint es, als sei nichts gewesen.

Doch wie verbringt man, bis es so weit ist, die restlichen Festspieltage? Wie hält man das alles aus? Über diese und andere Fragen wird es dann in den nächsten Folgen gehen, was allerdings nicht davon ablenken soll, dass das größte Berlinale-Ereignis kurz bevorsteht. Noch einmal sei darauf hingewiesen: In vier Tagen wird der neue Wenders-Film, „Viel passiert“, gezeigt, eine spannende Rockumentary über die Gruppe BAP mit dem beliebten Querdenker und Liedermacher Biermann in der Hauptrolle. Wim, Wolfgang und Wolf, wir zählen auf euch!

HARALD PETERS