Olympia bleibt der große Traum

Marko Baacke ist 21 und Weltmeister in der nordischen Kombination. Auch für Salt Lake City galt der junge Mann aus Ruhla als Medaillenkandidat – bis er beim Skispringen Ende November stürzte und Niere und Milz verlor. Nun plant er sein Comeback

aus Oberhof FRANK KETTERER

Der Tag, für den das Gespräch zu dieser Geschichte vereinbart war, war kein sonderlich guter Tag für Marko Baacke. Schon früh am Morgen war er mit dem Auto von Oberhof in Thüringen nach Frankfurt am Main gefahren, um seine Kameraden zum Flughafen zu bringen und sie zu verabschieden. Es war eine fröhliche Fahrt, es herrschte prima Laune, eben so, wie es ist, wenn junge Männer verreisen. Auf dem Weg zurück aber war von all der Heiterkeit nichts mehr übrig geblieben, ganz alleine war Marko Baacke nun mit sich und seinen Gedanken, die immer schwerer aufs Gemüt drückten und die sich auch von der lauten Rockmusik aus dem Autoradio nicht vertreiben ließen. Wie gerne wäre er einfach mit eingestiegen mit seinen Sportskameraden in den Flieger nach Salt Lake City, direkt nach Olympia, um dort mitkämpfen zu können, wenn heute und morgen Medaillen vergeben werden in seiner Sportart, der nordischen Kombination.

„Die Teilnahme bei Olympia ist einfach das Größte“, sagt Marko Baacke ein paar Stunden später bei dem Gespräch im Café „So und so“ in Oberhof. Das klingt zwar ein bisschen abgegriffen, weil doch alle Sportler das sagen, wenn sie nach den Spielen gefragt werden; prinzipiell falsch macht das den Satz deswegen nicht. „Olympia ist irgendwie ein Mythos“, findet Baacke, viel genauer kann er das aber auch nicht erklären. Nur so viel noch: „Es war einfach schon immer mein Traum, einmal bei Olympia teilnehmen zu dürfen“, was in seinem Falle heißt: seit er wettkampfmäßig Schanzen hinunterspringt und durch Loipen hastet, was schon sehr, sehr lange der Fall ist, obwohl er doch erst 21 Jahre alt ist.

Der Sturz von Ruka

Nun gibt es ja immer wieder Sportler, die es nicht schaffen, ihren Traum zu verwirklichen, viel mehr als solche, die es vollbringen. Manchmal fehlen ein paar Zentimeter, manchmal eine Zehntelsekunde. Und immer ist es hart für jene, die scheitern, Sport ist so. Bei Marko Baacke aus Ruhla aber hat nichts gefehlt, kein Millimeter und keine hundertstel Sekunde; vielmehr stand nie in Frage, dass er in Salt Lake City dabei sein würde, er ist schließlich der amtierende Weltmeister. „Olympia war für mich kein Traum mehr, sondern fast schon Realität“, kann er deshalb getrost sagen.

Der Tag, an dem sich entschieden hat, dass Marko Baacke doch nicht starten wird in Salt Lake City, war der 20. November des letzten Jahres. Es war ein Dienstag, und es war windig rund um die große Schanze von Ruka in Finnland. Marko Baacke ist dennoch hinaufgestiegen auf den Backen, um ein paar Trainingssprünge ins Tal zu setzen, für einen Topathleten wie ihn ist das Alltag, auch wenn der Wind mal ein bisschen heftiger bläst. Doch diesmal sollte es anders kommen: Schon der Absprung misslang, im Flug selbst verlor er seine Körperspannung und somit die Kontrolle über die Ski. Die Bretter unter seinen Füßen fingen an zu flattern, wie das in der Skispringersprache heißt, kurz vor der Landung brach der linke Ski gänzlich weg und der Sprung wurde in knapp einem Meter Höhe und bei rund hundert Stundenkilometern zum Sturz.

Niere und Milz entfernt

„Das sah gar nicht so schlimm aus“, erinnert sich Hermann Weinbuch, der Bundestrainer, der direkt an der Schanze stand. Und auch Baacke glaubte zunächst, einen ganz normalen Trainingssturz erlebt zu haben, so wie er „immer mal vorkommen kann beim Skispringen“. Er rappelte sich also auf, atmete tief durch – und spürte Schmerzen in der linken Seite. Dann wurde ihm schlecht, er musste sich übergeben, was die Mannschaftsbetreuer dazu veranlasste, den Rettungswagen zu rufen, um ihn ins Krankenhaus zu bringen, nur zur Sicherheit.

Wahrscheinlich hat Marko Baacke das das Leben gerettet. Bei der Ultraschalluntersuchung wurde Blut im Bauchraum festgestellt, ein Indiz für innere Verletzungen; nur eine Stunde später wurde er im Hubschrauber in die Universitätsklinik nach Oulo geflogen. „Dort haben mir die Ärzte gesagt, dass ich sofort operiert werden müsse“, erzählt Baacke. An alles andere kann er sich nicht mehr erinnern, es ging ja auch so verdammt schnell.

Der Film von Marko Baacke geht erst am Tag nach der Narkose weiter – und er nimmt einen traurigen Verlauf. Die Ärzte stehen an seinem Bett in ihren weißen Kitteln und mit ernsten Mienen, und sie teilen dem 21-Jährigen mit, dass sie ihm eine Niere und die Milz entfernen mussten, beide Organe waren bei dem Sturz geplatzt wie Luftballons. „Ich habe gedacht: So, das war’s jetzt“, erinnert sich Baacke an die Visite. „Ich habe gedacht, ich kann nie wieder Sport treiben.“

Es mag ein bisschen naiv klingen, trivial beinahe, in solch einer Situation als Erstes an Sport zu denken, wo man doch um ein Haar sein Leben verloren hätte. Bei einem wie Marko Baacke aber ist das wohl anders, und das nicht nur, weil er erst 21 ist und noch ein richtiges Milchgesicht hat. Vielmehr verhält es sich so, dass das wirklich eins ist für den jungen Mann aus Ruhla: der Sport und das Leben. Weil er beides nur zusammen kennt.

Drei Jahre war er alt, als ihn sein Vater, selbst zweifacher Seniorenweltmeister im Langlauf und Kombinationstrainer, das erste Mal auf die Langlaufbretter stellte; sechs, als er erstmals von einer Schanze sprang. Seither ist das sein Leben, seine Passion, und das ist wirklich nicht übertrieben, wie sich am weiteren Lebensweg zeigt. Mit 14 zieht Marko auf eigenen Wunsch („Ich wollte das einfach so“) von zu Hause weg ins Sportinternat nach Oberhof, mit 19 zwei Kilometer weiter zur Sportfördergruppe der Bundeswehr. Und immer geht es ums Langlaufen und Skispringen, zuletzt sechs bis sieben Stunden am Tag, anders wird man heute nämlich nicht mehr Weltmeister, schon gar nicht mit 21 und als erster Deutscher in der nordischen Kombination seit 16 Jahren.

„Ohne Sport“, sagt Marko Baacke, „könnte ich nicht sein.“ Und man weiß jetzt, dass das stimmt, so wie er mittlerweile weiß, dass Leistungssport durchaus auch mit einer Niere möglich ist. Die Ärzte haben ihm das erklärt. „Jede Niere arbeitet nur 40 Prozent von dem, was sie arbeiten könnte. Jetzt muss meine eine eben 80 Prozent arbeiten“, fasst Baacke zuammen – und man spürt, wie sehr ihm diese Rechnung Mut macht für die Zukunft.

Zehn Kilo verloren

„Für mich steht da kein Fragezeichen dahinter: Ich will nächste Saison wieder dabei sein“, sagt Marko Baacke mit der Entschlossenheit eines Weltmeisters. Schon an Weihnachten, fünf Wochen nach dem Sturz, stand er wieder auf Langlaufskiern, frei wie ein Vogel habe er sich da gefühlt, nachdem sie ihn so lange eingesperrt hatten im Krankenhaus und Rehazentrum. Mittlerweile läuft der Blondschopf schon wieder 15 bis 20 Kilometer am Tag, wenn auch noch etwas langsamer als früher, spielt Fußball und schindet sich im Kraftraum, um die Muckies wieder aufzublasen, die er in der Zeit des Nichtstuns verloren hat, immerhin rund zehn Kilo waren es. „Ich fühle mich schon fast wie vorher“, sagt Marco Baacke, „nur die Kondition ist noch nicht ganz so da“; und auch an Kraft mangelt es ihm wohl noch ein bisschen. „Aber es wird, ich spüre es.“

Bleibt der Übung zweiter Teil, der bei der Kombination der erste ist und für Baacke wohl der schwerere. Irgendwann wird er nämlich wieder hinaufsteigen müssen auf die Schanze und – vor allem – hinunterspringen, und leicht wird ihm das bestimmt nicht fallen. „Das ist eine psychologische Sache“, sagt Bundestrainer Weinbuch, der seit dem Sturz fast täglich mit seinem Lieblingsschüler telefoniert hat, um ihm Mut zu machen, schon weil er ganz genau weiß, „dass bei so einem schweren Sturz immer etwas im Kopf hängen bleibt“, auch beim Weltmeister. Ganz langsam und behutsam aufbauen und an größere Schanzen heranführen will Weinbuch seinen Schützling deshalb, auch ein Psychologe stehe jederzeit zu Verfügung.

Der Fehler ist bekannt

Marko Baacke hat den bisher abgelehnt, er will das einfach nicht. Was sollte der Mann ihm auch erzählen? „Ich weiß ja, dass beim Springen normalerweise nichts passieren kann“, sagt Baacke; dass es dennoch passiert ist, sei sein eigener Fehler gewesen, über den er sich völlig im Klaren sein. „Und weil ich weiß, warum der Sturz passiert ist, brauche ich mir auch keine weiteren Gedanken über ihn zu machen“, glaubt Baacke – und es klingt plötzlich ganz einfach.

Ob dem wirklich so ist, kann aber auch Marko Baacke mit Bestimmtheit nicht vorhersagen, auch er weiß nicht, was sich in seinem Kopf abspielt, wenn er zum ersten Mal wieder auf dem Backen sitzt. Vielleicht, das hofft er, macht es ihm gar nichts aus – und er rast einfach hinunter, gerade so als wäre nie etwas gewesen. Und alles ist endgültig wieder gut. Vielleicht aber steigt er auch hinauf und stellt dort oben fest, dass er es einfach nicht mehr kann: von einer Schanze springen. Und es ist ein für alle Mal vorbei mit seiner Karriere als nordischer Kombinierer und mit seinem Traum von Olympia. „Davor“, sagt Marko Baacke, „habe ich am allermeisten Angst.“