Größenwahn der Supermacht

Viele Kriegsbefürworter sehen sich bestätigt durch die Ereignisse in Afghanistan.Dabei ist nicht einmal ein Etappensieg gegen den Terrorismus errungen worden

Bush nutzt den Krieg gegen den Terror,um nebenbei andereUS-Interessen zuverfolgen

Als die Taliban im letzten Jahr aus Kabul vertrieben worden waren und eine Übergangsregierung dort im Dezember ihre Arbeit aufnahm, da sahen sich all jene in ihrer Meinung bestätigt, die Krieg von Anfang an für ein geeignetes Mittel im Kampf gegen den internationalen Terrorismus gehalten hatten. Auch manche derer, die zunächst gegen die Luftangriffte gewesen waren, hielten ihre ursprüngliche Position durch den Gang der Ereignisse für widerlegt. Das wirft die Frage auf, was die bekehrten Kriegsgegner denn eigentlich erwartet hatten: dass ein Steinzeitregime dauerhaft der überlegenen Waffentechnologie der einzigen verbliebenen Weltmacht würde standhalten können? Wohl nicht ernsthaft. Aber was dann? Es war doch vorhersehbar gewesen, dass die Islamisten über kurz oder lang die Städte in Afghanistan verlieren würden. Lediglich die Geschwindigkeit, mit der die Taliban das Feld geräumt hatten, überraschte. Nicht die Tatsache als solche.

Militärische Erfolge in urbanen Zentren lassen aber bekanntlich am Hindukusch noch keine Rückschlüsse auf künftige Machtverhältnisse oder auf eine Stabilisierung der Verhältnisse insgesamt zu. Es war der Sowjetunion nach ihrem Einmarsch in Afghanistan durchaus gelungen, dort die Städte zu erobern. Genutzt hat ihr das wenig. Ob Angaben der afghanischen Übergangsregierung zutreffen, denen zufolge die Taliban derzeit neue Strukturen außerhalb des Landes aufbauen, lässt sich von hier aus ebenso schwer einschätzen wie die jeweilige Stärke der verschiedenen rivalisierenden Gruppen innerhalb des Landes und das Maß ihrer Bereitschaft zum Kompromiss. Nur Fachleute können beurteilen, ob die Chancen auf Frieden in der Region durch die Ereignisse der letzten Monate größer geworden sind oder nicht. Wer sich in dieser Gegend der Welt nicht so gut auskennt, hat allerdings wenig Anlass zu Optimismus – angesichts der offenkundigen Befürchtungen derjenigen, die um eine Lagebeurteilung nicht herumkommen.

Der afghanische Ministerpräsident Hamid Karsai fordert eine Ausweitung des Mandats der Vereinten Nationen für die Stationierung ausländischer Truppen in seinem Land. Er wird wissen, warum. Unterdessen lassen die meisten der an der UN-Mission beteiligten Nato-Staaten keinen Zweifel daran, dass sie lieber heute als morgen den Rückzug antreten möchten. Sie werden ebenfalls wissen, warum. Italiens Verteidigungsminister Antonio Martino hat den Auftrag der italienischen Soldaten in Afghanistan bereits für „praktisch beendet“ erklärt. Auch er wird wissen, warum.

Nun lässt sich mit Recht darauf hinweisen, dass der Kampf gegen die Taliban nicht die Befriedung der Region zum Ziel hatte – auch wenn im „heute journal“ vor einigen Tagen vom „Krieg für die Befreiung Afghanistans“ die Rede war und der westliche Jubel angesichts unverschleierter Frauen in Kabul die Vermutung nahe legte, die Bomben seien im Namen der Menschenrechte abgeworfen worden. Diese Annahme wäre irrig. Es ging nicht um Afghanistan, sondern um die Bekämpfung des internationalen Terrorismus. Ist in diesem Zusammenhang denn nun wenigstens ein Etappensieg erreicht worden? In den USA selbst scheint man das nicht zu glauben. Niemand hält die Sicherheitsmaßnahmen für übertrieben, die den Austragungsort der Olympischen Spiele in eine Festung verwandelt haben.

Dennoch ist natürlich unbestreitbar, dass der Verlust des Rückzugsgebietes in Afghanistan das internationale terroristische Netzwerk vor logistische Probleme stellt und mögliche neue Operationen erschwert. Aber die Frage stellt sich, ob dieser Rückschlag nicht mehr als aufgewogen wird durch die Tatsache, dass das Vorgehen der USA in den letzten Monaten einen guten Nährboden für wachsenden Antiamerikanismus lieferte. Der US-Wissenschaftler Marc Herold von der University of New Hampshire hat alle verfügbaren Daten über zivile Opfer in Afghanistan zusammengetragen und eine Studie zum Thema erstellt. Er kommt darin zu dem Ergebnis, dass zwischen dem 7. Oktober und dem 10. Dezember bei Luftangriffen der Alliierten mindestens 3.767 Zivilisten ums Leben gekommen sind. Unvermeidlich? Wo gehobelt wird, da fallen Späne? Seit der Eroberung von Kabul ist im Westen die Diskussion über die Legitimität des Einsatzes von Streubomben verstummt. Das ändert nichts daran, dass im Rest der Welt der Eindruck entstanden ist, amerikanische Tote seien mehr wert als andere Opfer.

Nach dem 11. September war vor allem in Europa die Hoffnung weit verbreitet, die USA würden internationale Institutionen und den Wert internationaler Zusammenarbeit künftig höher schätzen als in der Vergangenheit. Diese Hoffnung hat sich zerschlagen. Als Illusion hat sich auch die Annahme erwiesen, politisches Wohlverhalten und die Demonstration „uneingeschränkter Solidarität“ müsse dazu führen, dass die Meinung der Verbündeten in Washington berücksichtigt werde und man somit Einfluss auf das Geschehen nehmen könne. Den Teufel kann man.

US-Präsident Bush lässt keinen Zweifel daran, dass er auf Verbündete nicht angewiesen zu sein glaubt. Seit dem 11. September hat er mehrere internationale Verträge platzen lassen oder gekündigt, das Völkerrecht im Zusammenhang mit Kriegsgefangenen wiederholt missachtet (sogar gegen Widerstand im eigenen Land) und darüber hinaus deutlich gemacht, welche Bedeutung er im Zweifelsfall der Nato beimisst: gar keine. Das erkennbare Entsetzen europäischer Partnerländer über die Liste von Staaten, die angeblich den Terrorismus unterstützen und deshalb in den Augen der US-Regierung potenzielle Angriffsziele sind, scheint den Präsidenten eher zu immer martialischeren Stellungnahmen zu beflügeln als zu bremsen. Bush macht auch kein Hehl daraus, dass er den Kampf gegen den Terror nutzt, um nebenbei andere strategische US-Interessen zu verfolgen – wie beispielsweise den möglichst ungehinderten Zugriff auf die noch verbliebenen Ölreserven der Welt. In der Psychologie gibt es für ein derartiges Verhalten einen präzisen Begriff: Größenwahn.

Die meisten Nato-Staaten würden sich gern aus Kabul zurückziehen. Sie werden wissen, warum

Ein Guerillakrieg in Permanenz, der durch immer neue Militäraktionen beantwortet würde, bedrohte nicht nur die Sicherheit der USA, sondern die der ganzen Welt. Manche europäischen Regierungen beziehen inzwischen auch öffentlich laut und klar Stellung gegen den gefährlichen Kurs der US-Politik. Die deutsche Bundesregierung gehört nicht dazu. Leider. Bisher lässt sie nicht einmal die Bereitschaft erkennen, die Folgen des Krieges in Afghanistan mit einer genauen Analyse seiner Erfolge und seiner Misserfolge redlich zu erörtern. Im Gegenteil: Seit den erfreulichen Fernsehbildern von jubelnden Menschen in Kabul ist das Thema abgehakt und befindet sich derzeit unter der Überschrift „Sieg auf der ganzen Linie“ im Archiv der Geschichte. Vieles spricht dafür, dass es dort nur zwischengelagert ist.

BETTINA GAUS