Unsere Hymne, unser Hit

In Denis Chouinards „L’Ange de goudron – Tar Angel“ (Panorama) funktioniert die multikulturelle Modellgesellschaft Kanadas geradezu verdächtig vorbildlich

Die Freiheit zu bewachen, so heißt es in der kanadischen Nationalhymne, seien die Menschen gekommen von nah und auch von fern. Diese Hymne ist es, die Ahmed summt vor dem Spiegel, während er seinen Anzug anprobiert, den er tragen will zur Feier der bald bevorstehenden Verleihung der Staatsbürgerschaft. „Das Lied nervt“, sagt seine Frau eher scherzhaft. Ahmed und seine Familie sind dereinst aus Algerien geflohen aus Furcht vor den Islamisten. „Das ist unser Hit“, antwortet er, „das ist unsere Hymne.“

Problemlos assimiliert scheint die Familie Kasmi im Panorama-Beitrag „L’Ange de goudron – Tar Angel“, auch wenn Ahmed beim Verlegen von geteerten Dächern in einem tief verschneiten Montreal schon mal feststellt, dass dies eigentlich kein Land sei, in dem man im Freien arbeiten sollte. Dann aber bricht der 19-jährige Sohn Hafid in die Ausländerbehörde ein und muss untertauchen. Ahmed macht sich auf die Suche nach seinem Sprössling und stößt bei seinen Nachforschungen auf Marihuana, Kondome, von Hafid signierte Graffiti und schließlich auf eine tätowierte Kanadierin. Hafids Freundin führt ihn zu einer Untergrundgruppe, die mit recht radikalen Methoden für die Rechte von Einwanderern kämpft.

Das Sujet des Films, die Unterschiede der verschiedenen Immigrantengenerationen, das Aufeinanderprallen der Kulturen, scheint mitunter egal zu werden. Die Ausländerpolitik und Abschiebepraxis der kanadischen Regierung bietet eher Anlass für eine dramatische Zuspitzung, statt grundsätzlich hinterfragt zu werden. So wird „L’Ange de goudron“ schnell zum Road-Movie und verliert sich mitunter in schönen, aber eher nichtssagenden Aufnahmen von Highways, die sich endlos durch eine romantische Winterlandschaft ziehen, und Menschen, die durch tiefen Schnee stapfen. Der alltägliche Rassismus begegnet der algerischen Familie nur selten. Abgesehen von einem schikanösen Sachbearbeiter scheint die multikulturelle Modellgesellschaft Kanada vorbildlich zu funktionieren.

Seine Dramatik bezieht „L’Ange de goudron“ eher aus dem Vater-Sohn-Konflikt, der in ebenso gemächlicher wie beunruhigender Zwanghaftigkeit darauf zuläuft, dass alle Figuren sich und ihre moralischen Grundfesten in Frage stellen werden. Trotzdem kann man in den Bildern hin und wieder eines deutlich sehen: das Erstaunen von Ahmed (wundervoll gespielt von Zinedine Soualem) über das Land, das er auf der Suche nach seinem Sohn entdecken darf, aber auch entdecken muss. Schließlich wird die Hymne, die er zu Beginn noch übte, tatsächlich die seine. Nun aber singt er nicht mehr mit. THOMAS WINKLER

„L‘Ange de goudron“. Regie: Denis Chouinard. Kanada 2001, 103 Min.