Gold besiegt Schmerz

Claudia Pechstein muss schon Weltrekord laufen, um Gold über 3.000 Meter zu gewinnen. Anni Friesinger scheitert bei diesem Vorhaben

aus Salt Lake City MARTIN HÄGELE

In dem Raum, der für Interviews mit den Medaillengewinnern im Eisschnelllauf vorgesehen ist, stehen neben dem Podium mit den Mikrofonen drei Fahrräder. Hometrainer, wie man sie aus den Fitnessstudios kennt. Auf einem dieser Ergometer strampelte am Sonntagabend die Studentin Cindy Klassen, während sie den Reportern beschrieb, wie sich ihre Oberschenkel auf der letzten Runde des 3.000-Meter-Rennens anfühlten: „Man glaubt, sie können jeden Moment platzen.“ Auch Renate Groenewold aus den Niederlanden ließ die Medien ihre Leiden noch einmal nacherleben: „Deine Muskeln wachsen und wachsen, du denkst, sie explodieren. Aber du darfst dich nach dem Ziel nicht hinsetzen. Mein Trainer hat mich sofort hochgezogen und gesagt: Lauf einfach weiter und winke ins Publikum.“

Nur Sieger leiden weniger. Oder man sieht es nicht so. Claudia Pechstein verwies zwar über eine Stunde nach dem Gewinn der Goldmedaille auf ein Pfeifen in ihren Bronchien, aber das ist wohl von anderen inneren Stimmen übertönt worden in diesem Moment. Zu olympischen Medaillen und zu Weltrekorden aber gehören Schmerzen dazu, das sollten die Botschaften von der Bühne und vom Fahrrad herunter den Journalisten sagen. Schreibt ruhig auch mal auf, wie weh es tut, wenn Bestmarken fallen. Denn alle drei hatten für ihre Medaillen den Weltrekord verbessern müssen. Und Claudia Pechstein hatte die von ihr selbst aufgestellte Bestzeit von 3:59,26 auf 3:57,70 gedrückt.

Für Anni Friesinger aber, die haushohe Favoritin über diese Distanz, die alle Weltcuprennen dieser Saison gewonnen hatte und für diesen Tag den Weltrekord geplant hatte, blieb der Raum der Siegerinnen versperrt. Das Covergirl der deutschen Olympiamannschaft musste in der Mixed Zone reden und sie erledigte die unangenehme Pflicht höchst professionell. Andere hätten Rotz und Wasser geplärrt an ihrer Stelle, Friesinger aber beschönigte nichts: Sie hatte die Konkurrenz mit einem Weltrekord schocken wollen, 3:57,5 hieß der Marschplan des Trainers. Auf der letzten Runde aber verlor die Inzellerin an Tempo. „Ich weiß nicht, ob es an der Kraft oder an der Luft lag“, sagte sie.

Auch dem Trainer fiel es nicht leicht, die Enttäuschung einzuordnen. Einerseits habe Friesinger die eigene Bestmarke um 2,5 Sekunden unterboten, so Eichel, andererseits „ auch ein bisschen versagt“. Jetzt helfe nur die Zeit bis zum Montag, wenn es über 1.000 Meter weitergeht, „und die Anni nicht die Topfavoritin, sondern nur eine von mehreren Favoritinnen ist. Die Zeit heilt Wunden.“ Wie tief die sind, muss sich noch erweisen. Ganz so bitter schmeckt die Niederlage offenbar doch nicht. Und es war wohl doch vernünftig, dass sich die zwei deutschen Rivalinnen Friesinger und Pechstein, kurz bevor es losging, ausgesprochen haben und ein Abkommen geschlossen haben: Während Olympia sagt keine was Böses über die andere.

Was das rein Sportliche betrifft, so hat die Siegerin eingeräumt, dass sie schon durch die Auslosung im Vorteil war. Während Friesingers Gegnerin Jennifer Rodriguez nur auf den ersten Runden das hohe Tempo mitgehen konnte, profitierte Pechstein sowohl von der Richtzeit aus dem eigenen Lager als auch von der exzellenten Form der Holländerin auf der anderen Bahn. „Ich habe versucht, mich auf meinen Rundenplan und meine Atmung zu konzentrieren und im Kopf locker zu bleiben“, so Pechstein. „Wir waren ja auch ein Traumpaar. Ich habe bald gemerkt, wie Cindy Klassen dagegengehalten hat. Zum Schluss musste ich unheimlich Druck machen.“

Im Nachhinein lässt sich schwer sagen, was Claudia Pechstein mehr getrieben hat: die Freude, dass die Erzrivalin aus Bayern „meinen Weltrekord nicht geknackt hat“. Oder war es das Duell mit dem orangen Renndress, der sich einfach nicht abhängen ließ. Oder der Gedanke, dass Olympische Spiele eigene Gesetze haben und auch sie selbst hier eine besondere Vergangenheit besitzt. Zur Erinnerung: Auch die zwei Goldmedaillen über 5.000 Meter in Lillehammer und Nagano hatte sie aus der Position der Außenseiterin gewonnen.

Vielleicht sollte man ganz einfach den Fachleuten trauen. Dem Heimtrainer Joachim Franke etwa. „Claudia ist minutiös gelaufen, das ist ihre größte Stärke. Keine kann sich ein Rennen so einteilen wie sie.“ Oder Gunda Niemann-Stirnemann, die wegen ihrer Schwangerschaft beim ZDF kommentiert und die schwärmte von der sportlichen Klasse und dem Feingefühl Pechsteins für das Eis: „Dieser Lauf war eine absolute Augenweide.“ Die werdende Mama konnte sich schier nicht einkriegen vor Begeisterung. Und es wird der erfolgreichsten Eisläuferin aller Zeiten auch nichts ausmachen, wenn sie nächste Woche, was die Sammlung von olympischem Edelmetall betrifft, von Claudia Pechstein übertroffen wird. „Über 5.000 Meter wird der nächste Weltrekord purzeln, und ich werde dieses Ereignis mit Neugierde und Spannung genießen.“