Schussfahrt mit Grizzly

Nachdem der hohe Favorit Stephan Eberharter den Olympiasieg in der anspruchsvollen Abfahrt seinem österreichischen Landsmann Fritz Strobl überlassen musste, hofft er nun auf den Super G

aus Snowbasin MATTI LIESKE

Ein Grizzly ist, wie Karl-May-Leser wissen, eine partiell unangenehme Sorte Bär. Stephan Eberharter mag vielleicht kein Karl-May-Leser sein, bestätigen wird er diese Erkenntnis nach der olympischen Abfahrt, bei der er nur Dritter wurde, ohne weiteres. Als gigantischster aller Favoriten war er in Snowbasin auf die Strecke gegangen, welche nach dem riesigen grauen Bären Old Ephraim benannt ist, der etwa von 1911 bis 1923 in dieser Gegend sein Unwesen trieb. Fünf von acht Weltcup-Abfahrten hat der Österreicher diese Saison gewonnen, den Sieg im Abfahrtsweltcup vor einer Woche in St. Moritz noch schnell perfekt gemacht und auch im Gesamtweltcup liegt der 31-Jährige fast uneinholbar in Führung. Gold gewinnt nur Eberharter, hieß es zuvor, doch dann kam der grässliche Grizzly und mit ihm Fritz Strobl und schnappte ihm den Olympiasieg weg. Als Zugabe sauste dann auch noch der Norweger Lasse Kjus, in dieser Saison bisher eher unauffällig, erstaunlich schnell den Abhang am Mount Allen hinunter und schnappte sich das Silber.

Stephan Eberharter nahm die Niederlage äußerlich und verbal gelassen hin. „Es war nicht der klare Lauf, den ich erwartet hatte“, sagte er nüchtern, aber Bronze sei „ein schöner Anfang“. Er sei ja auch in der Kombination, beim Super G und im Riesenslalom Favorit, und außerdem habe er gewusst, dass so etwas passieren könne, sei also auf die Enttäuschung vorbereitet gewesen. In der Tat werden olympische Abfahrten höchst selten von den Favoriten gewonnen. Manchmal kommt ein vorher unbekannter Amerikaner vorbei, wie Bill Johnson 1984 oder Tommy Moe 1994, fährt das Rennen seines Lebens und verschwindet wieder in der Versenkung; mal gewinnt einer wie Leonhard Stock 1992, von dem die meisten dachten, er habe sein Karriere längst beendet. So ist paradoxerweise ausgerechnet bei der Königsdisziplin des alpinen Skisports Olympia gar nicht so bedeutsam – oder weiß noch jemand, wie der Olympiasieger 1998 in Nagano hieß? Nein, nicht Hermann Maier, sondern Jean-Luc Cretier.

Diese Unwägbarkeit liegt daran, dass die olympischen Strecken meist recht einfach sind, zum einen, um die nur bei den Spielen vertretenen relativ schwachen Läufer nicht zu überfordern, zum anderen, weil die Austragungsorte keine geeigneten Hänge für anspruchsvolle Abfahrten bieten. Das ergibt dann so genannte Autobahnen mit langen Gleitstücken, bei denen der an diesem Tag schnellste Ski entscheidet. Nicht so in Salt Lake City. Die Grizzly-Abfahrt hat gute Chancen, als einzige Olympiaabfahrt neben dem norwegischen Kvitfjell in den Weltcup aufgenommen zu werden. „Mir blieb der Atem weg“, schildert der Schweizer Bernhard Russi, einer der elegantesten Abfahrer aller Zeiten, seinen ersten Eindruck an diesem Berg. Russi hat die vier letzten Olympia-Abfahrten gestaltet und die in Snowbasin war ihm das reinste Vergnügen. Sein Grizzly, auf dem am Samstag auch der Super G ausgetragen wird, hat alle Schikanen zu bieten, die es im Skirennsport so gibt: Traversen, Kompressionen, Kurvensequenzen und natürlich Sprünge. Gleitstücke gibt es gar nicht, das gesamte Rennen muss auf den Kanten absolviert werden. „Es ist immer was los“, lobt Daron Rahlves aus den USA. „Eine sehr technische Abfahrt“, meint auch der österreichische Sieger Fritz Strobl, „wie eine Achterbahn, immer auf und ab.“

Vom Start bei „Ephraims Face“ geht es so steil nach unten, dass die Läufer binnen zehn Sekunden bei 120 Stundenkilometern sind. Alsbald folgt der gewaltige „Flintlock Jump“, bevor es ins eisige „Winterschlafloch“ geht und dann in die Kurven der „Three Toes“. So lautete ein Spitzname des Bären Ephraim, dem offenbar irgendwann ein Malheur mit seinen Pranken passiert war. Sollte er in eine Falle getreten sein, dürfte auch dem schuldigen Trapper ein Malheur passiert sein, woran die fiese „Bear Trap“ und der „Trapper Loop“ erinnern, eine langgezogene Kurve, die in einen Sprung übergeht. Über die „Rendezvous Face“ erreichen die Läufer mit fast 150 Stundenkilometern den Zielhang, wobei mit müden Muskeln noch eine tückische Linkskurve zu bewältigen ist. „Verpasse die“, sagt Russi, „dann verlierst du das Rennen, egal, was du vorher gemacht hast.“ Was der Norweger Kjetil-Andre Aamodt bewies, der vor dem Rendezvous noch die zweitbeste Zwischenzeit knapp hinter Strobl hatte, aber dann auf Rang vier zurückfiel.

Keine Abfahrt für Außenseiter, wie auch deren Architekt Bernhard Russi vorher meinte: „Nimm die Führenden im Abfahrtsweltcup und du hast den Sieger darunter.“ Gut getippt: Fritz Strobl ist hinter seinem Landsmann Eberharter Zweiter dieser Wertung. Dennoch wäre der logische Sieger in historischer Tradition Daron Rahlves gewesen, der Super-G-Weltmeister aus den USA, der die Strecke aus dem Effeff kannte, Heimvorteil hatte und technisch schwierige Abfahrten liebt. Er litt jedoch unter einem klaren Fall von Übermotivation. Nachdem er raketengleich zur besten ersten Zwischenzeit geschossen war, geriet ihm der Flintstock Jump viel zu hoch und weit, womit die Sache schon gelaufen war. „Diese Strecke verzeiht nicht“, sagte Rahlves, der schließlich 16. wurde.

Das einzig Befremdliche an diesem pelztiergeprägten Tag war im Übrigen, dass der australische Skifahrer mit dem signifikanten Namen AJ Bear lediglich auf den 37. Rang kam.