Chirac kommt aus der Deckung

Der französische Präsident stellt sich zur Wiederwahl. Es ist seine vierte Kandidatur. Scheitert er, dann muss er sich wegen Finanzaffären der Justiz als Zeuge stellen

PARIS taz ■ Jacques Chirac hat Avignon gewählt. Hemdsärmelig, tiefstimmig und zuversichtlich lächelnd hat er gestern Mittag in der südfranzösischen Theaterhauptstadt die Rolle als Staatspräsident verlassen und ist in jene geschlüpft, die ihm wie eine zweite Haut passt. „Oui, je suis candidat“, hat er gesagt – Ja, ich bin Kandidat – und gleich noch einen der griffigen Sätze hinterhergeschoben, die moderne Politikberater empfehlen: „Ich will Frankreich zum Sieg verhelfen“.

Der 69-jährige Neogaullist, der bereits dreißig Jahre in den Palästen der Französischen Republik auf dem Buckel hat, dient sich damit erneut für die Zukunft an. Eine Überraschung ist das für niemanden in Frankreich. Erstens zeigt die Erfahrung, dass alle Staatspräsidenten ihre eigenen Nachfolger werden wollen. Zweitens hat Chirac nie einen Hehl aus seinem Gefallen an dem Amt gemacht. Und drittens ist Chirac angesichts mehrerer Ermittlungsverfahren wegen Parteispendenaffären quasi zum Verbleib im Elyséepalast verdammt: Wird er abgewählt, muss er sich der Justiz als Zeuge stellen.

Dennoch ändert die Erklärung von Avignon die Bedingungen des Wahlkampfes: Zwei Monate vor dem ersten Durchgang am 21. April wird es ernst. Bislang gehörte das Feld allein den „kleinen“ Kandidaten, von denen sich bereits über 20 gemeldet haben. Über die großen herrschte wochenlang Gemauschel. Das Umfeld von Chirac sprach von dessen „nahe liegender Kandidatur“ und der sozialdemokratische Premierminister Lionel Jospin von seiner eigenen „wahrscheinlichen Kandidatur“.

Für Chirac, der seine Karriere als Provinzpolitiker in Zentralfrankreich begann und der früh nach Paris „aufstieg“, wo er nacheinander das Kabinett von Präsident Pompidou, die Spitzen verschiedener Ministerien, das Premierministeramt und das Rathaus der französischen Hauptstadt eroberte, ist es die vierte Präsidentschaftskandidatur.

Seine erste präsidiale Amtszeit verlief völlig anders als erwartet. Vor sieben Jahren war Chirac mit dem Slogan „Frankreich für alle“ angetreten und hatte eine Politik „gegen den sozialen Bruch“ propagiert. Doch bloß in seinen ersten zwei Amtsjahren hatte er freie Hand. In jener Zeit, in der die Regierungsgeschäfte in den Händen des Neogaullisten Juppé lagen, fielen die Wiederaufnahme der Atomtests, ein paar nächtliche Streitereien mit dem deutschen Kanzler Kohl und ein radikaler Versuch, die Sozialversicherungen im öffentlichen Dienst zu „reformieren“, der zu einem dreiwöchigen beinahe totalen Streik führte.

1997 sorgte Chirac selbst für das Ende seiner soliden konservativen Mehrheit an der Spitze Frankreichs: Er löste das Parlament vorzeitig auf. Seither hat er es mit einer rot-rosa-grünen Regierung zu tun und muss sich auf die dem Präsidenten vorbehaltenen Domänen Außenpolitik und Militär beschränken. Was jetzt zu Ende geht, ist die längste „Kohabitation“ an der Spitze der V. Republik.

Französische Politologen halten Kohabitationen für „lähmend“. Den Franzosen hingegen scheint das Zusammenspiel der unterschiedlichen Kräfte zu passen. Nichts schließt aus, dass sie eine ähnliche Konstellation in diesem Jahr wiederwählen.

Chirac, der gestern seinen Wahlkampf – und damit das intensive Zwiegespräch mit dem Volk – begonnen hat, wählte dazu wieder die Provinz. Vor sieben Jahren kündete er seine Absicht in dem nordfranzösischen Blatt Voix du Nord an. Dieses Mal ging er in den Süden, in eine Stadt, in der die Neogaullisten bei den Kommunalwahlen im vergangenen Frühjahr einen historischen Wahlsieg gegen die sozialdemokratische Ministerin Elisabeth Guigou davontrugen. Für Premierminister Jospin, den „wahrscheinlichen Kandidaten“, war das eine empfindliche Niederlage. DOROTHEA HAHN